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125Grundlagen
der Poetik Musils
analyse literarischer Texte, die in einem ersten Schritt die literarische Konst-
ruktion sozialer Welt im Text untersucht (hier Teil II) und diese Konstruktion
in einem zweiten Schritt als Medium der indirekten Selbstobjektivierung des
Autors im literarischen Feld deutet (hier Teil III). Ihr methodologischer Vor-
zug besteht darĂŒber hinaus in ihrem differenzierten Konzept von Gesellschaft :
Mit ihr lÀsst sich die erzÀhlerische Gesellschaftsdarstellung nicht mehr nur als
passive Widerspiegelung allgemeiner sozialer Klassenantagonismen einer Ge-
sellschaft in toto (im Sinne der Àlteren Sozialgeschichte) oder als Àhnlich pas-
sive Notation subjektloser Ăberkreuzungen von Machtkomplexen (im Sinne
der Diskursanalyse) beschreiben, sondern als kreative Gestaltung jeweils indi-
vidueller Inkorporationen gesellschaftlicher ZwĂ€nge, die der Musilâschen Vor-
stellung einer weitgehenden Formbarkeit des einzelnen Menschen durch die
Gesellschaft (im Sinne des Gestaltlosigkeitstheorems) besser entspricht und
mithilfe ihrer literarischen Formarbeit in einer vordem ungekannten Weise
âdas Reale zur Erscheinung bringtâ138.
Die methodische Herausforderung, die der Mann ohne Eigenschaften fĂŒr eine
literaturwissenschaftliche Sozioanalyse darstellt, besteht zum einen darin, dass
im Musilâschen Roman keine kompletten LebenslĂ€ufe (âLaufbahnenâ) verhan-
delt werden wie in Flauberts Ăducation sentimentale, sondern nur ein einziges
Jahr, nÀmlich jenes vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (August 1913
bis August 1914). In dessen erzÀhlerischer Darstellung figurieren aber zahl-
reiche Anachronien bzw. Analepsen und Prolepsen139, die dem Romantext
ĂŒber den erzĂ€hlten Zeitraum hinaus eine diachrone Dimension erschlieĂen140,
sowie vor allem bezeichnende Kommentare und ErlÀuterungen durch den
sozialpsychologisch versierten ErzÀhler. Die sozioanalytisch relevanten Infor-
mationen zu den einzelnen Figuren mĂŒssen also aus den unterschiedlichsten,
zum Teil weit voneinander entfernten Romanpassagen zusammengetragen
werden, ergeben in ihrer Gesamtheit aber jeweils eine schlĂŒssige und in sich
konsequente habituelle Struktur. Zum anderen resultiert die methodische Pro-
138 So Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 179, ĂŒber Flaubert ; vgl. oben Kap. I.1.1.
139 Vgl. Genette : Die ErzĂ€hlung, S. 25 f.: âMit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver, das
darin besteht, ein spÀteres Ereignis im voraus zu erzÀhlen oder zu evozieren, und mit Analepse
jede nachtrĂ€gliche ErwĂ€hnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem frĂŒhe-
ren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die ErzÀhlung bereits erreicht hat ; der allgemeine
Ausdruck Anachronie hingegen soll [âŠ] dazu dienen, sĂ€mtliche Formen von Dissonanz zwi-
schen den beiden Zeitordnungen zu bezeichnenâ ; mehr dazu ebd., S. 32â54.
140 Schon Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 176, konstatiert trotz aller forcierten SynchronitÀt
des Romans ein âhohe[s] Interesse an lebensgeschichtlicher Rekonstruktion, das Musil den-
noch leitetâ.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208