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127Grundlagen
der Poetik Musils
Ausrichtung indes a priori zahlreiche thematische Aspekte des Mann ohne Ei-
genschaften aus der Untersuchung ausschlieĂen, und seien sie auch noch so
zentral.147
Aufgrund des gewaltigen Umfangs sowie der inhaltlichen und formalen
KomplexitÀt des Mann ohne Eigenschaften können im gegebenen Rahmen frei-
lich nicht sÀmtliche seiner zahllosen Aspekte in gleicher IntensitÀt der Ana-
lyse unterzogen werden. Um im ausufernden Material eine gliedernde und
erkenntnisleitende Struktur zu etablieren, stĂŒtzt sich der Hauptteil der vorlie-
genden Untersuchung (II.) terminologisch auf die drei zentralen analytischen
Begriffe der Feldtheorie und methodologisch auf ihre von Bourdieu skizzier-
ten Untersuchungsschritte148, die sie allerdings ihrer literarischen Thematik
entsprechend modifiziert : Ihr Gegenstand ist zunÀchst (II.1.) ein kursorischer
Abriss des im Roman dargestellten sozialen Raums bzw. Feldes und seiner in-
ternen Struktur im Ganzen149 â ein einleitender Abschnitt der Sozioanalyse,
147 Vgl. Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 170 f.: âVon entscheidender Bedeutung fĂŒr das VerstĂ€nd-
nis des MoE ist, daĂ in ihm das, âwas istâ, die Wirklichkeit, in erster Linie als Sprache erscheint.â
Gemeint ist damit selbstredend nicht die Binsenweisheit, dass RealitÀt im Medium der Litera-
tur stets nur sprachlich vermittelt ist, sondern wohl eher die Tatsache, dass in Musils Roman
die erzĂ€hlerische Suggestion einer auĂersprachlichen âWirklichkeitâ durch die forcierte The-
matisierung unterschiedlicher sprachlicher Diskursivierungsstrategien in den Hintergrund ge-
drĂ€ngt wird. Pekar bezeichnet den Mann ohne Eigenschaften deshalb pointiert als âRoman ĂŒber
Spracheâ, schrĂ€nkt seine semiotische Herangehensweise aber noch weiter ein, indem er Musils
Werk als âRoman ĂŒber die Sprache der Liebeâ scheinbar prĂ€zisiert. âLiebeâ versteht er dabei gut
strukturalistisch als âallgemeines kulturelles Zeichensystemâ â also ausschlieĂlich als âSpracheâ
und keinesfalls als körperliche soziale Praktik â, das âneben anderen symbolischen Systemenâ
steht. GĂ€nzlich fragwĂŒrdig scheint mir die von Schilt : Figuren in Musils Roman, S. 19, aus-
drĂŒcklich betriebene âElimination zahlreicher Datenâ sowie die eingestandene âidealisierende
Abstraktionâ der Figuren in einem Roman zu sein, der diese Art der Abstraktion wiederholt
kritisch beleuchtet und ihr letztlich jede Berechtigung abspricht.
148 Vgl. Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 340.
149 Vgl. Bourdieu : Sozialer Raum und âKlassenâ, S. 10 : Die Kategorie des sozialen âKrĂ€ftefeldesâ
versteht sich in Anlehnung an das Modell des physikalischen Feldes âals ein Ensemble objekti-
ver KrĂ€fteverhĂ€ltnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegenĂŒber sich als Zwang auferlegen
und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interak-
tionen zurĂŒckfĂŒhrbar sindâ. Das bedeutet fĂŒr die Akteure : âDer Antrieb â oder die Motivation,
wie es zuweilen heiĂt â steckt weder im materiellen oder symbolischen Zweck des Handelns,
wie der naive Finalismus, noch in den ZwÀngen des Feldes, wie die mechanische Sicht es will.
Er steckt in der Verbindung von Habitus und Feld, so daĂ der Habitus selber das mitbestimmt,
was ihn bestimmt.â (Ebd., S. 75) Innerhalb moderner westlicher Gesellschaften gibt es nach
Bourdieu/Wacquant : Reflexive Anthropologie, S. 135, verschiedene soziale Felder, deren jedes
âeinen potentiell offenen Spiel-Raum mit dynamischen Grenzenâ bildet, die âein im [jeweiligen]
Feld selbst umkĂ€mpftes Interessenobjekt darstellenâ. Zum theoretischen Konzept des sozialen
âKrĂ€ftefeldesâ generell vgl. Bourdieu : Ăber einige Eigenschaften von Feldern ; zu den Feldern
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208