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131Grundlagen
der Poetik Musils
Mediums als âlegitime Kunstâ.158 Er stĂŒtzt sich dabei auf die medientheoreti-
sche These, âeine neue Kunstâ sei âwie ein neues Sinnesorganâ, und der Film
sei in ebendieser Weise âeine neue Kunst und so verschieden von allen ande-
ren wie Musik von der Malerei und diese von der Literaturâ.159
Einer der heute prominentesten Kritiker BalĂĄzsâ war der leidenschaftliche
KinogÀnger160 Robert Musil, der den ungarischen Filmtheoretiker auch per-
sönlich gut kannte und schĂ€tzte und dessen eigener kĂŒnstlerischer Werdegang
parallel zur âEntstehung und Verbreitung des technischen Mediums Filmâ
verlief.161 In seinem Essay AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik ĂŒbernimmt er zwar ein-
gangs BalĂĄzsâ Diktum vom Film als der âVolkskunst unseres Jahrhundertsâ162, ja
unterstreicht es noch durch die Bemerkung, wonach âdie Kirchen und Got-
tesstÀtten aller Religionen in Jahrtausenden die Welt mit keinem so dichten
Netz ĂŒberzogenâ haben, âwie das Kino es in drei Jahrzehnten tatâ (GW 8,
1138). Er richtet seine Aufmerksamkeit im Verlauf seiner BeweisfĂŒhrung aber
nicht mehr weiter auf diese Dimension des Mediums als âsoziale Kunst, die
158 Die traditionsgesĂ€ttigte und -bildende âlegitime Kunstâ ist im Gegensatz zur zumindest schein-
bar traditionslosen âillegitimen Kunstâ soziologisch dadurch gekennzeichnet, dass sie âtechnisch
wie ökonomischâ nicht âjedermann zugĂ€nglich erscheintâ, dass ihr âetwas ganz und gar Wei-
hevollesâ anhaftet und dass âdiejenigen, die sich ihr widmen, von sich selbst [âŠ] das GefĂŒhl
haben, an einem System expliziter und kodifizierter Normen gemessen zu werden, das die
legitime Praxis im Hinblick auf ihren Gegenstand, ihre AnlĂ€sse und ihre ModalitĂ€t festlegteâ, so
Bourdieu : Einleitung [zu Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst], S. 18. Darauf, dass der Film in
den zwanziger Jahren ânoch weit davon entfernt war, allgemein als Kunst anerkannt zu seinâ,
verweist auch Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 125.
159 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 11.
160 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 1039â1059, sowie schon Rogowski : âEin andres Verhalten zur
Weltâ, S. 106 u. 110, mit Blick auf Tb 1, 704, u. Tb 2, 503, Anm. 121, wonach Musil Filme mit
Fred Astaire und Ginger Rogers sowie Buster Keaton zur Entspannung von der schriftstelle-
rischen Arbeit dienten, wohingegen nicht zu eruieren ist, ob er die heute als Meisterwerke
gefeierten Arbeiten von Fritz Lang, G. W. Pabst, Ernst Lubitsch oder F. W. Murnau ĂŒberhaupt
zur Kenntnis genommen hat. In der Glosse EindrĂŒcke eines Naiven, die am 14. Juni 1923 in
der Wiener Soldatenzeitschrift Die Muskete erschien, gesteht Musil etwa, bis dato noch keinen
Chaplin-Film gesehen zu haben (GW 9, 1618) â was ihn wohl eher als Liebhaber denn als
wirklichen Kenner des damaligen Kinobetriebs zu erkennen gibt. In einer Geste der Beschei-
denheit gegenĂŒber âdem geschliffenen Geist der SachverstĂ€ndigenâ prĂ€sentiert er seine kurso-
rischen Einlassungen zum Kino denn auch als âdie Stimme eines, der aus den WĂ€ldern kommtâ
(GW 9, 1618), und erwĂ€hnt darĂŒber hinaus in einem Eintrag in sein Arbeitsheft 33 selbst seine
ambivalente Haltung gegenĂŒber dem anspruchsvollen âliterarischen Filmâ (Tb 1, 924).
161 So Rogowski : âEin andres Verhalten zur Weltâ, S. 106 f.: âUm 1908, als Musil sich gegen eine
akademische Karriere und fĂŒr das Leben eines Schriftstellers entscheidet, ist der Film praktisch
ĂŒberall mit der Errichtung stĂ€ndiger Lichtspieltheater salonfĂ€hig geworden.â
162 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 10 : âNicht in dem Sinn, leider, daĂ sie aus dem Volksgeist
entsteht, sondern daĂ der Volksgeist aus ihr entsteht.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208