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133Grundlagen
der Poetik Musils
umzukehren in der Lage sei und damit den Menschen aus seiner historischen
Entfremdung in eine SphÀre der Eigentlichkeit befreie :
Denn der Mensch der visuellen Kultur ersetzt mit seinen GebÀrden nicht Worte wie
etwa Taubstumme mit ihrer Zeichensprache. [âŠ] Seine GebĂ€rden bedeuten ĂŒber-
haupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationelles Selbst, und was sich auf
seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrĂŒckt, kommt von einer Schichte der
Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar
zum Körper, wortelos, sichtbar.169
Die solcherart apostrophierte unmittelbare Sichtbarkeit der Seele, jene âviel-
fach verlernte Sprache der Mienen und GebĂ€rdenâ, sei von der âBuchpresseâ
und ihrer âKultur der Worteâ verschĂŒttet und mĂŒsse wieder von neuem er-
lernt werden170, wozu der Kinematograf beitragen könne : âDer Film ist es,
der den unter Begriffen und Worten verschĂŒtteten Menschen wieder zu un-
mittelbarer Sichtbarkeit hervorheben wird.â171 Im Anschluss an seinen aka-
demischen Lehrer Georg Simmel172 betreibt BalĂĄzs eine Wiederaufwertung
des âunmittelbar sichtbare[n] Geist[es]â auf Kosten des âmittelbar-hörbarenâ,
denn â wie er in Herderâscher Diktion feststellt : â[D]ie GebĂ€rdensprache ist
die eigentliche Muttersprache der Menschheitâ, wohingegen das âWortâ den
âMenschen vergewaltigt zu habenâ scheine.173 Die umfassende Tragweite des
symbolisch revolutionĂ€ren Anspruchs manifestiert sich etwa in BalĂĄzsâ Klage,
ânicht nur der menschliche Körperâ sei historisch durch die âVernachlĂ€ssigung
als Ausdrucksorgan verkĂŒmmert, sondern auch die Seele, die durch ihn auszu-
drĂŒcken gewesen wĂ€reâ.174 Seine BegrĂŒndung fĂŒr diesen Verlust an Seele greift
allerdings weniger auf Ă€ltere TheoriebestĂ€nde zurĂŒck, sondern gibt sich in ih-
rer medientheoretischen Orientierung dezidiert modernistisch : â[E]s ist nicht
derselbe Geist, der sich einmal hier in Worten, ein andermal dort in GebÀrden
ausdrĂŒckt. Wie auch in der Musik nicht dasselbe bloĂ anders gesagt wird wie
[sic] in der Dichtung.â175
169 Ebd., S. 16.
170 Ebd., S. 17.
171 Ebd., S. 19.
172 Vgl. Koch : Die Physiognomie der Dinge, S. 76 ; auch ebd., S. 80 ; RuĂegger : Kinema mundi,
S. 38 ; Frank : Musil contra BalĂĄzs, S. 126, 134â136 u. 151 f. Mehr dazu bei Bathrik : Der un-
gleichzeitige Modernist, S. 27 u. bes. S. 33 f.
173 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 18.
174 Ebd., S. 19.
175 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208