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142 Teil I: Grundlegung
hielten eine neue soziale Einbettung â eben die, Kunst zu sein, das ist etwas in seinen
sozialen Beziehungen und seiner Bedeutung scheinbar so sehr Bestimmtes, daĂ man
ĂŒber das Wesen dieser Beziehungen nachzudenken kaum noch ein BedĂŒrfnis empfin-
det. / Im Kern steckt aber darin ein andres Verhalten zur Welt. (GW 8, 1141)
Die von Musil apostrophierte âneue soziale Einbettungâ der allgemein anthro-
pologischen âGrunderlebnisseâ eines âanderen Zustandsâ, die deren konkrete
Gestalt jeweils maĂgeblich prĂ€gt, bezeichnet die sĂ€kulare historische Heraus-
bildung eines eigenen, relativ autonomen gesellschaftlichen Teilbereichs der
âKunstâ. Nicht zuletzt im Hinblick auf dessen gleichsam ontologische BegrĂŒn-
dung sind Musils anhaltende BemĂŒhungen um den âanderen Zustandâ zu ver-
stehen. Seine Auseinandersetzung mit der âKultur des Filmsâ hat hier ihren
ĂŒber den unmittelbaren Anlass hinausgehenden Bezugspunkt.
Aus dem skizzierten Kontext erklĂ€rt sich auch Musils starkes Interesse fĂŒr
âein zum Film gehörendes Grunderlebnisâ, nĂ€mlich âjenes in BalĂĄzsâ Buch be-
schriebene ungewohnte Leben, welches die Dinge in ihrer optischen Einsam-
keit gewinnenâ (GW 8, 1142). TatsĂ€chlich unterstreicht BalĂĄzs die âstarke At-
mosphĂ€re, die im Film durch die groĂe Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge
entstehtâ, und setzt dabei insbesondere auf die filmische GroĂaufnahme208 ; die
âPoesie, welche mehr auf einen abstrakten Sinn eingestellt istâ, sei hingegen
zur Schaffung einer solchen AtmosphĂ€re nicht in der Lage.209 Er gibt dafĂŒr
folgende BegrĂŒndung :
In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und
unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten
Grades und das auch nur in den seltenen Momenten besonders hellsichtiger Emp-
findlichkeit der Menschen, die sie betrachten. [âŠ] Im Film verschwindet dieser Va-
leurunterschied. Dort sind die Dinge nicht so zurĂŒckgesetzt und degradiert. In der
gemeinsamen Stummheit werden sie mit dem Menschen fast homogen und gewinnen
dadurch an Lebendigkeit und Bedeutung. Weil sie nicht weniger sprechen als die
Menschen, darum sagen sie gerade so viel. Das ist das RĂ€tsel jener besonderen Film-
atmosphÀre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.210
Wenn BalĂĄzs davon spricht, dass im Film die stummen Dinge âmit dem Men-
schen fast homogenâ werden, dann bezeichnet er damit prĂ€zise das, was LĂ©vy-
208 Vgl. BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 48â54.
209 Ebd., S. 31.
210 Ebd., S. 31 f.; vgl. dazu Musils nicht ganz vollstÀndiges Zitat dieser Passage (GW 8, 1142).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208