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146 Teil I: Grundlegung
Notwendigkeit praktischer Orientierung, was zur Formelhaftigkeit treibt, und
zwar zur Formelhaftigkeit der Begriffe nicht mehr als zu der unsrer GebÀr-
den und SinneseindrĂŒcke, die sich nach ein paar Wiederholungen genau so
einschleifen wie die an Worte geknĂŒpften VorstellungsablĂ€ufe.â (GW 8, 1146)
Dieser allgegenwÀrtige entwicklungspsychologische Sachverhalt der unab-
lĂ€ssigen Formelbildung215 â und nicht einfach der Bereich des âRatioĂŻdenâ216
â stellt nun den polemischen Bezugspunkt dar, an dem gegenlĂ€ufige kĂŒnstleri-
sche BemĂŒhungen ansetzen können :
Kunst als Form ist wohl eine besondre Begrenzung und Gruppierung des gewöhn-
lichen Lebensinhalts, sie bereichert ihn, aber sie bleibt in seinem Umkreis. Die Zwi-
schentöne, Schwingungen, Schwebungen, Lichtstufen, Raumwerte, Bewegungsach-
sen, in der Dichtung der irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender
Worte : wie in einem alten GemĂ€lde, wenn man es firniĂt, Geschehnisse hervortreten,
die unsichtbar waren, so sprengen sie das stumpfe, eingeschlagene Bild und die For-
melhaftigkeit des Daseins. (GW 8, 1147)
Allerdings sei zu bedenken, dass ein ĂbermaĂ an Lebensferne und Lebens-
feindschaft unter KĂŒnstlern âden Eindruck geschwĂ€chter Opiatikerâ erwe-
cke, âalter Trinker, die nĂŒchtern ĂŒberhaupt keinen Halt habenâ. Daran ver-
deutliche sich, dass âdie Kunst zwar aus der Formelhaftigkeit der Sinne und
Begriffeâ befreie, âdieser Zustandâ sich aber ânicht zur TotalitĂ€t âstreckenââ
lasse : âSo wenig wie das mystische Erlebnis ohne das rationale GerĂŒst einer
religiösen Dogmatik, und die Musik ohne LehrgerĂŒst.â Angesicht solcher
ernĂŒchternden Erkenntnis, die kaum fĂŒr eine âNĂ€he zur expressionistischen
Kunstauffassungâ217 steht, erklĂ€rt Musil mit Blick auf BalĂĄzs und dessen Apo-
theose der âvisuellen Kulturâ âdas Wesen allzu optimistischer âBefreiungsversu-
cheââ fĂŒr âgerichtetâ (GW 8, 1147). Mit anderen Worten : Die Vorstellung, âdaĂ
man tanzend, filmend oder wie immer kunstgebĂ€rdend und âexpressivâ ein von
Grund aus [sic] anderer Mensch wird als durch die DruckerschwĂ€rzeâ, fĂŒhre
âzu einem phantastischen Irrealismusâ :
215 Die Unkenntnis dieses entwicklungspsychologischen Hintergrundes der Argumentation Musils
fĂŒhrt Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 136, zur Kritik am ânachlĂ€ssigen
Gebrauch des Konzeptes des Formelhaftenâ.
216 So aber GrĂ€tz : Psychopathologie und Ăsthetik, S. 197 f., die das von Musil keineswegs gering
geschĂ€tzte âRatioĂŻdeâ fĂ€lschlich fĂŒr âein simplifizierendes und verharmlosenden Wirklichkeits-
verhĂ€ltnisâ hĂ€lt, âmotiviert durch das Bestreben, sĂ€mtliche Bereiche des Lebens [âŠ] klar und
ĂŒbersichtlich zu strukturieren.â
217 So GrÀtz ebd., S. 200.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208