Seite - 147 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 147 -
Text der Seite - 147 -
147Grundlagen
der Poetik Musils
Es ĂŒbernehmen bei jeder dieser âKulturenâ, von denen wir so reich beglĂŒckt werden,
besondere Komponenten des normalen Totalerlebnisses die FĂŒhrung ; mit allen, zum Teil
sehr erfreulichen Auffrischungen und ErgÀnzungen, die das zur Folge hat, aber mehr ge-
schieht nicht. [âŠ] Wo mehr davon verlangt wird, entsteht sofort etwas, das man nur die
motorische Phrase, das schönkörperliche Geplapper nennen kann. (GW 8, 1148)
Als Beispiel fĂŒr solche âmotorischen Phrasenâ nennt Musil charakteristische
Erscheinungsformen des damaligen Stummfilms : âDas prĂ€tentiös Formel-
hafte der GebĂ€rden macht zum groĂen Teil den Kitsch im Film aus, wie es
ebenso den höheren Kitsch im Tanz bildet ; das UnertrÀgliche in Film und
Tanz [âŠ] beginnt dort, wo Zorn Augenrollen wird, Tugend Schönheit und
die ganze Seele eine Steinallee bekannter Allegorien.â (GW 8, 1148 ; vgl. M
III/3/68). In seiner Antwort auf eine Umfrage der Magdeburgischen Zeitung zu
âKino oder Theaterâ greift Musil diesen Gedanken am 25. Dezember 1926,
also gut anderthalb Jahre spÀter, noch einmal auf und vertieft ihn im Sinne
seiner Einsicht in die KonventionalitÀt bzw. VoraussetzungsabhÀngigkeit auch
sinnlicher EindrĂŒcke und Erlebnisse : âGlĂŒcklicherweise hat der Film in der
Phase, wo er die SprechbĂŒhne nachahmte, ein solches Phrasendreschen mit
AusdrucksgebÀrden hervorgebracht, daà die Meinung, Leidenschaften und
Geschehnisse sprĂ€chen fĂŒr sich selbst und man brauche sie nur auf den Draht
bringen, davon unterhöhlt wurde. Sie sprechen wohl, aber sie sagen wenig.â
(GW 9, 1718) Es ist diese VoraussetzungsabhĂ€ngigkeit selbst visueller EindrĂŒ-
cke und Erlebnisse, die Musils entschiedenen Zweifel an BalĂĄzsâ Behauptung
einer âneue[n] Form des verkörperlichten sinnlichen Erlebensâ218 durch den
Film und einer damit einhergehenden wahrnehmungsgeschichtlichen Revo-
lution begrĂŒndet. Dem hĂ€lt er so dezidiert wie nĂŒchtern entgegen : âEs gibt
neue Erlebnisse, aber keine neue Art des Erlebens.â (GW 8, 1148) Dass er
mit diesen Worten keineswegs âdie Geschichtlichkeit jeglicher Wirklichkeits-
wahrnehmungâ in Abrede stellen will, wie Rogowski meint219, sondern nur
218 So die Formulierung von Rogowski : âEin andres Verhalten zur Weltâ, S. 117.
219 Ebd., S. 117 f. âWeder thematisch noch strukturell wird der Möglichkeit Rechnung getragen,
daĂ alltĂ€gliche Wahrnehmungsweisen und âanderer Zustandâ gleichermaĂen geschichtlichen
Wandlungen unterworfen sein dĂŒrften.â Die angesichts zahlreicher gegenteiliger Romanpas-
sagen wohl haltlose These Rogowskis beruht auf seiner emphatischen Fokussierung des Films
âals Emblem der geschichtlichen VerĂ€nderung von Wahrnehmungsstrukturenâ, die sich auf
Walter Benjamins ebenso emphatische BemĂŒhungen im Essay Das Kunstwerk im Zeitalter sei-
ner technischen Reproduzierbarkeit (1935) stĂŒtzt. Mit dessen euphorischem geschichtsphiloso-
phischen Ansatz hat Musils skeptischer Essay, der im Unterschied zu Benjamin ĂŒberdies vor
allem in eigener Sache argumentiert (vgl. unten), tatsÀchlich wenig gemein, was aber nicht
notwendig gegen ihn ausgelegt werden muss. Zu Rogowskis These vgl. auch die Kritik von
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208