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153Grundlagen
der Poetik Musils
Die Literatur ist kraft ihrer â dem Kino, aber auch dem Theater fehlenden
â ErzĂ€hlinstanz nĂ€mlich in der Lage, vom Geschehen einen Schritt zurĂŒck-
zutreten und es aus dem gewonnenen Abstand reflexiv zu durchdringen,
mithin die zur Analyse Àsthetischer Erfahrung hÀufig in Anschlag gebrachte
âDynamik der Immersionâ236 auf eine âhöhereâ Ebene zu heben. Damit ent-
spreche sie am ehesten der allgemeinen menschlichen Erkenntnisweise, wie
Musil in seiner Antwort auf die Umfrage der Magdeburgischen Zeitung vom 25.
Dezember 1926 nahelegt, indem er auf die fĂŒr ihn wichtige Unterscheidung
zwischen Ă€uĂeren und inneren VorgĂ€ngen rekurriert : âAuch im persönlichen
Leben ist das Ă€uĂere Verhalten des GemĂŒts nicht mehr als eine vorlĂ€ufige und
ausdrucksarme Ăbersetzung des inneren, und das Wesen des Menschen liegt
nicht in seinen Erlebnissen und GefĂŒhlen, sondern in der zĂ€hen, stillen Ausei-
nander- und Ineinssetzung mit ihnen.â (GW 9, 1718) Die letztgenannte geis-
tige TĂ€tigkeit bezeichnet wohl entschieden mehr als die von Arno RuĂegger
diagnostizierte Problematik der âKontextbindungâ â und sei diese âvon emi-
nenter psychologischer Relevanzâ237 ; sie ist auch nicht bloĂ ein Effekt einer
retrospektiv bewertenden âNachwirkungâ des Ă€sthetischen Erlebnisses bzw.
âjener Erfahrung, welche der Autor auf Kosten des unmittelbaren LektĂŒre-
Erlebnisses bevorzugtâ, wie Audrey Vermetten vermutet.238
Musils nachdrĂŒckliches Votum fĂŒr eine anhaltende kognitive âAuseinander-
und Ineinssetzungâ der Kunst mit menschlichen âErlebnissen und GefĂŒhlenâ
anstelle ihrer bloĂ âĂ€uĂerlichenâ Aus- oder Darstellung entspringt seinem ana-
lytischen Interesse am âinneren Menschenâ (GW 8, 1029), das die Sprache als
kĂŒnstlerisches Medium eindeutig privilegiert und ihm zufolge den besonderen
Stellenwert der auf dieser Zeichenordnung basierenden ErzÀhlliteratur im ge-
samten System der KĂŒnste begrĂŒndet :
Die Erlebnisse unserer Sinne sind nÀmlich beinahe ebenso konservativ wie die The-
aterdirektoren. Was auf den Blick und Klang (selbst wenn es nicht der erste Blick ist)
tieren.â So scheine der Essay AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik âdie Probe aufs Exempel reflexiven
ErzĂ€hlens abgeben zu wollenâ ; tatsĂ€chlich aber bestĂ€tige er nur, âwas Musil bereits in seinen
frĂŒhen ErzĂ€hltexten wuĂte : daĂ alle Ă€sthetische Reflexion und Produktion sich an der Frage
nach einer spezifisch Ă€sthetischen Wahrnehmung abzuarbeiten hatâ (S. 163). Zu diesem eher
bescheidenen Ergebnis ihrer ambitionierten analytischen BemĂŒhungen, das sie mit Musils In-
tentionen gleichsetzt, merkt Bolterauer dann wiederum pauschal an : âDas ist so neu nicht.
SchlieĂlich hat sich die psychologische Wende innerhalb der Ăsthetik bereits im zu Ende ge-
henden 19. Jahrhundert durchgesetztâ (S. 163).
236 Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 137.
237 So der Fokus der Deutung in RuĂegger : Kinema mundi, S. 50.
238 So Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 127.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208