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156 Teil I: Grundlegung
medienkomparatistisch als spezifisches Proprium der Literatur248 legitimiert ;
sie wird wegen ihrer besonderen FĂ€higkeit zur eingeforderten aktiven âRĂŒck-
ĂŒbersetzungâ ins âBegriffliche, Intellektuelleâ fĂŒr den Mann ohne Eigenschaften
so charakteristisch sein. Auch von anderer Seite nÀhert sich Musil diesem Pro-
blem : â[M]an kann es geradezu als das entscheidende Kennzeichen fĂŒr die
SelbstĂ€ndigkeit einer Kunst ansehn, daĂ sie, mit BalĂĄzs zu sprechen, eine âun-
ersetzbare Ausdrucksmöglichkeitâ sei, oder [âŠ] diese InkommensurabilitĂ€t als
Kennzeichen fĂŒr die Wahl eines Ausdrucksmittels gebrauchen.â (GW 8, 1149)
Worin lĂ€ge nun die literaturspezifische âInkommensurabilitĂ€t als Kennzeichen
fĂŒr die Wahl eines Ausdrucksmittelsâ, wenn nicht in der vermittelnden ErzĂ€h-
linstanz, die dem damals noch stummen Kino genauso wie dem Theater249
infolge ihrer jeweiligen technisch-medialen Voraussetzungen fehlten ? Die Er-
zÀhlliteratur erweist sich aufgrund ihrer spezifischen FÀhigkeit zur expliziten
Reflexion der dargestellten Welt in gewisser Hinsicht als zwar vergleichsweise
abstrakte, weil im Unterschied zum Film relativ âsinnenferneâ, zugleich aber
als besonders âtiefgrĂŒndigeâ Kunst ; nur sie ist nĂ€mlich in der Lage, das anth-
ropologische Sinnbegehren Ă€sthetisch produktiv zu machen : â[S]elbst wenn
eine Kunst so in sich gekehrt ist wie die Musik, voll gegenstandsloser Gestalt,
abnorm gesteigerten GefĂŒhls und unaussprechlicher Bedeutung : irgendwann
fragt man sich, was es bedeutet hat, setzt es in Beziehung zur Gesamtperson,
ordnet es sich auf irgendeine Weise ein.â (GW 8, 1149) Die vermittelnde Er-
zÀhlinstanz kann einer drohenden Erstarrung des Sinns, die aus diesem allge-
genwĂ€rtigen BedĂŒrfnis nach KommensurabilitĂ€t resultiert250, entgegenwirken,
indem sie nicht nur Anregungen oder Irritationen zu reflexiver Durchdringung
liefert, sondern selbst immer wieder ĂŒberraschend unkonventionelle Ange-
bote alternativer Bedeutungsgenerierung bereitstellt. Vom stummen Film oder
der amimetischen Musik, ja auch vom erzÀhlerlosen Theater wird man solche
248 Musil entspricht damit einer basalen medientheoretischen Einsicht, die McLuhan : Popular/
Mass Culture : American Perspectives, S. 35, in folgende Worte gefasst hat : âI think one of the
things that happens when a new medium comes on the scene is you become aware of the
basic characteristics of older media in a way that you were not when they were the only things
around. [âŠ] So thereâs a great advantage in one way in this revolution brought on by a new
medium in revealing some of the earlier features of older media, making them more intelligible
and more useful, giving us more a sense of control over them.â
249 Angesichts der eher geringen Möglichkeiten seiner ErzĂ€hlinstanz, die aus technischen GrĂŒn-
den auf kurze SĂ€tze beschrĂ€nkt war, stellt das âepische Theaterâ Bertolt Brechts hier kein trifti-
ges Gegenargument dar.
250 Vermetten : Im Grenzbereich von Literatur und Film, S. 132, sieht darin Musils Angriff auf
ein âgrundlegendes Prinzip der [historischen, N. C. W.] Avantgardeâ, ânĂ€mlich dasjenige der
Emanzipation der Kunst von den Regeln der Verstehensâ.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208