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157Grundlagen
der Poetik Musils
essayistische Leistung vergeblich erwarten251, und selbst der wenig spÀter er-
fundene Tonfilm sollte hier keine Abhilfe schaffen, war doch allenthalben die
âUmwandlung des kritischen Urteils durch das kaufmĂ€nnischeâ zu beobach-
ten, âseit Gott in seiner uns schwer begreiflichen GĂŒte die Sprache des Men-
schen auch den Erzeugern von Tonfilmen verliehen hatâ, wie Musil in seiner
Rede Ăber die Dummheit (1937) sarkastisch resĂŒmiert (GW 8, 1270).
Ihm zufolge zielt Literatur, die diesen Namen verdient, auf jene âandere
Weltâ, die gerade nicht dem normalisierten Sinnbegehren nachgibt. Seine es-
sayistische ErzÀhlstimme bricht deshalb sowohl auf formaler als auch auf in-
haltlicher Ebene mit den traditionellen Vorstellungen vom Roman, indem sie
einerseits das implizite Verbot von âauthorial intrusionsâ programmatisch miss-
achtet und andererseits gerade doxische Wahrnehmungs- und VerstÀndnisfor-
men â also festgefĂŒgten Sinn â reflexiv in Frage stellt und damit erst offenlegt.
Es gelingt ihm solcherart, nicht nur die Doxa des normalisierten Alltags sicht-
bar zu machen, sondern auch die dem intellektuellen Diskurs eigenen Formen
jener Doxa, welche sich kritisch vom AlltagsverstÀndnis absetzt und ihre ei-
genen impliziten Voraussetzungen und blinden Flecken umso mehr ĂŒbersieht.
Das Aufbrechen der normalisierten Haltung wird gerade dort ermöglicht, wo
diese selbst Gegenstand kritischer Reflexionen geworden ist. Insofern ent-
spricht Musils ErzĂ€hlverfahren dem kritischen Anspruch der Bourdieuâschen
Sozioanalyse, die darauf abhebt, nicht nur andere Akteure und fremde soziale
Konstellationen zu objektivieren, sondern den kritischen Blick auch auf den
objektivierenden Autor und seine Analyse selbst zu richten. Eine solche re-
flexive Selbstobjektivierung war dem damaligen Film nicht nur wegen seiner
medialen BeschrÀnkung auf die VisualitÀt (noch) unmöglich, sondern allein
schon aufgrund der viel kĂŒrzeren kumulativen Geschichte des Genres insge-
samt â von den konkreten Rezeptionsbedingungen ganz zu schweigen. Der
251 DemgegenĂŒber behauptet Bolterauer : Die Herausforderung der neuen Medien, S. 170 f., es
spreche âfĂŒr das sichere GespĂŒr des Poeten Musil, daĂ er dabei nicht in die Falle einer immer
etwas peinlich wirkenden Kontroverse um Ăberlegenheit der alten oder neuen Medien gerĂ€t
[?], sondern die Provokation des Films nutzt, um sich ĂŒber einige grundlegende Fragen aller
Bestimmungsversuche von Kunst und Literatur klar zu werden. Eindeutig folgt aus der we-
niger kontroversiellen denn komplementĂ€ren GegenĂŒberstellung eine Dominantsetzung des
Aspekts der Wahrnehmung, auf dem aufbauend des weiteren ĂŒber Spezifika einer Ă€sthetischen
Wahrnehmung diskutiert werden kann.â Indem der Fokus der BemĂŒhungen Musils somit mehr
oder weniger ausschlieĂlich auf den Aspekt der Ă€sthetischen Erfahrung beschrĂ€nkt bleibt, er-
scheint der Essay AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik seiner durchaus auch polemischen Seite beraubt.
Vgl. dagegen Rogowski : âEin andres Verhalten zur Weltâ, S. 110, wo es konzis und zutreffend
heiĂt, Musil bewerte âdie Dichtung als ungleich höhere Kunstformâ ; ganz Ă€hnlich Corino :
Musil [2003], S. 1043.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208