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158 Teil I: Grundlegung
Film konnte eine der Dichtung ebenbĂŒrtige ReflexivitĂ€t erst im Lauf des 20.
Jahrhunderts entwickeln252 und wurde dabei unter anderem transmedial von
den Errungenschaften der viel traditionsgesÀttigteren Literatur inspiriert.
Die Kehrseite der skizzierten reflexiven Kompetenz von Literatur ist frei-
lich die bereits von BalĂĄzs inkriminierte Tatsache, dass sie, die âunmittelbar
mit dem Material der Formulierung selbst arbeitetâ, âvon allen KĂŒnsten dem
Denken am nÀchsten steht und das abstrakte Denken seinem Wesen nach
eine formelhafte VerkĂŒrzung ist ; jeder Begriff bedeutet das, und je allgemeiner
die Begriffe sind, desto leerer sind sie von besonderem Inhaltâ (GW 8, 1152).
Eine eingehende Analyse dieser âEntleerung des Lebens durch das Denkenâ
hat Musil in seinen Arbeitsheften aus Lévy-Bruhls Denken der Naturvölker
exzerpiert.253 Er selbst ergÀnzt diese Beschreibung in den AnsÀtzen zu neuer
Ăsthetik indes durch die komplementĂ€re Beobachtung, âdaĂ die Entleerung
nicht nur vom Denken gilt, sondern auch vom FĂŒhlen, und man kann ganz
analog den Kitsch sowohl wie die moralische Engstirnigkeit als eine formel-
hafte VerkĂŒrzung des GefĂŒhls bezeichnenâ (GW 8, 1152). Hier liege eine Ge-
fahr aller KĂŒnste254, besonders aber des Films verborgen255, und insofern sei es
eine Aufgabe aller âKĂŒnstlerâ wie auch âder Forscher oder der Gesetzgeberâ,
dagegen anzukĂ€mpfen ; âsie sollten einander nicht entwerten, sondern ihre
Anstrengungen vereinenâ (GW 8, 1152). Das Fazit der Medienkomparatistik
Musils gibt sich versöhnlich.256 In den orakelhaft anmutenden Schlussworten
252 Als Beispiel sei etwa Sans soleil (1983) erwÀhnt, der erste Essayfilm von Chris Marker, des-
sen aus dem Off gesprochener verbaler Text parallel zur Bilderfolge zu hören ist und fiktive
Elemente mit essayistisch-philosophischen Kommentaren verbindet. Der Text fungiert als ei-
genstĂ€ndiger reflexiver Kommentar zu den Bildern und stellt eine explizite Reflexion ĂŒber das
visuell Vermittelte und seine Wahrnehmung dar.
253 Vgl. Tb 1, 627, nach Lévy-Bruhl : Das Denken der Naturvölker, S. 149. Mehr dazu unten in
Kap. I.3.2.
254 Mehr dazu in Wolf : âWer hat dich, du schöner Wald⊠?â, S. 202â204.
255 In einer im Nachlass ĂŒberlieferten undatierten Notiz erklĂ€rt Musil den populĂ€ren âErfolg des
Kinosâ denn auch damit, dass in diesem âdie emotionalen Grundstimmungen des Organismusâ
â âgrobe SentimentalitĂ€t, grobe[r] Edelmut udgl.â â âohne störendes Wort bewegt werdenâ
(GW 7, 908, nach M III/4/51).
256 So nimmt er durchaus auch medienspezifische Vorteile des Films wahr, wie aus seiner Glosse
EindrĂŒcke eines Naiven hervorgeht, in der er etwa die âĂberlegenheitâ der reproduktiven kine-
matografischen âTechnikâ gegenĂŒber dem Theater erwĂ€hnt : âDieser Schauspieler spielt das
Gleiche fĂŒnfhundertmal, und ich sehe ihn einmal, so daĂ die Wahrscheinlichkeit, daĂ ich seine
beste Leistung erwische, ein FĂŒnfhundertstel ist ; der Filmregisseur dagegen lieĂe den gleichen
Vorgang, wenn es nottĂ€te, fĂŒnfhundertmal kurbeln, und die Wahrscheinlichkeit, daĂ der Be-
sucher den besten Moment sieht, ist bei ihm unter allen UmstĂ€nden gleich der GewiĂheit.â
In diesem suggestiven Argument, das angesichts der eminenten wirtschaftlichen ZwÀnge des
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208