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163Grundlagen
der Poetik Musils
und mehr noch die Rezipienten des Textes â in die Lage versetzt, sich von der
unmittelbaren Gewalt singulĂ€rer oder massenweise perpetuierter EindrĂŒcke
bzw. Erlebnisse durch deren reflexive Durchdringung und Kontextualisierung
zu befreien.269 Musils ErzÀhlweise zielt auf die emanzipatorische (Wieder)Ge-
winnung reflexiven Bewegungsspielraums im Zeitalter der suggestiven, alle
medientechnischen Register ziehenden, âtotalenâ politischen oder ökonomi-
schen Propaganda.
Dieser Befund einer im Mann ohne Eigenschaften gemÀà der Musilâschen
Ăsthetik erfolgenden kognitiven âVerbindung und Verarbeitungâ sinnlicher
EindrĂŒcke und Erlebnisse durch die essayistische ErzĂ€hlinstanz wĂ€re freilich
noch genauer zu bestimmen und zu differenzieren â etwa am Beispiel des be-
rĂŒhmten nachgelassenen Kapitelentwurfs âAtemzĂŒge eines Sommertagsâ fĂŒr
das Zweite Buch (MoE 1232â1239).270 An gegenwĂ€rtiger Stelle sei hingegen
noch einmal die Àsthetische ProduktivitÀt nicht allein intermedialer Anleihen
der Literatur am âneuenâ und damals noch âillegitimenâ Medium Film betont,
sondern auch diejenige ganz bewusster AbstoĂungen und Distinktionen im
Sinne der Medienkonkurrenz, die â freilich in anderer Diktion â schon Adorno
hervorgehoben hat.271 Die Avanciertheit literarischer ErzÀhlverfahren in der
Moderne bemisst sich nĂ€mlich weniger an der bloĂen narrativen Imitation
scheinbar avancierterer anderer Medien und KĂŒnste, wie eine medientheore-
tisch ausgerichtete Literaturwissenschaft meinen mag, sondern allererst an der
in einer â gleichwie gearteten â Auseinandersetzung mit diesen gewonnenen
inneren Differenziertheit des Mediums Literatur272, das solcherart auf die Àsthe-
269 Die von GrĂ€tz : Psychopathologie und Ăsthetik, S. 199, bei Musil diagnostizierte âHerausarbei-
tung assoziativer BewusstseinszusammenhĂ€ngeâ bezeichnet also nur einen Teil und keines-
wegs den Kern seines poetischen Verfahrens, das deshalb auch nicht einfach mit dem âdurch
das Wegfallen der hierarchisierenden Obervorstellungâ gekennzeichneten âassoziativen Den-
kenâ gleichgesetzt werden kann, âwie es vom Mediziner und Psychologen Ernst Kretschmer
beschrieben wurdeâ, sondern dieses stets wieder perspektiviert und relativiert.
270 Vgl. dazu die einschlÀgigen Beobachtungen im Abschnitt zu Ulrich und Agathe aus dem Kap.
II.3.1.
271 Vgl. Adorno : Standort des ErzĂ€hlers im zeitgenössischen Roman, S. 41 f.: âWie der Malerei von
ihren traditionellen Aufgaben vieles entzogen wurde durch die Photographie, so dem Roman
durch die Reportage und die Medien der Kulturindustrie, zumal den Film. Der Roman mĂŒĂte
sich auf das konzentrieren, was nicht durch den Bericht abzugelten ist. Nur sind ihm im Ge-
gensatz zur Malerei in der Emanzipation vom Gegenstand Grenzen gesetzt durch die Sprache,
die ihn weithin zur Fiktion des Berichtes nötigtâ ; als Beispiel nennt Adorno in diesem Zusam-
menhang allerdings nicht Musils Essayismus, sondern Joyces Rebellion âgegen die diskursive
Spracheâ.
272 Die These stĂŒtzt sich auf eine Einsicht von Heller : HistorizitĂ€t als Problem der Analyse interme-
dialer Beziehungen, S. 279 : âDer literarische Autor schreibt so, als ob er ĂŒber die âInstrumente
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208