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170 Teil I: Grundlegung
erfundenes Liebesgedicht. Das Wunderbarste daran war, daĂ die Polizei einen Men-
schen nicht nur so zergliedern kann, daĂ von ihm nichts ĂŒbrigbleibt, sondern daĂ sie
ihn aus diesen nichtigen Bestandteilen auch wieder unverwechselbar zusammensetzt
und an ihnen erkennt. (MoE 159f.)
Indem die moderne Welt solcherart Individuen durch Disziplinartechniken
erzeugt, wie Musil in einer Vorwegnahme der diskursanalytischen Einsichten
Foucaults erzĂ€hlerisch vorfĂŒhrt, bietet sie dem intellektuellen Habitus Ulrichs
eine ProjektionsflĂ€che fĂŒr seine Verabschiedung ĂŒberkommener Subjektvor-
stellungen. Bezeichnend fĂŒr den âeigenschaftslosenâ Protagonisten ist nĂ€m-
lich der Umstand, dass er angesichts dieser vorderhand entsubjektivierenden
Erfahrung eines Zerfalls seiner nur scheinbar persönlichsten âbesondere[n]
Kennzeichenâ (MoE 159) in unpersönliche Merkmale âbegeistertâ ist und ge-
rade nicht in einen regressiven Essenzialismus verfÀllt.14 Die radikale Deter-
mination des Menschen durch eine allgegenwÀrtige Disziplinarmacht kann
vom Intellektuellen als Freiheit interpretiert werden, wenn er sie dialektisch
als Determination zur Indeterminiertheit deutet.
Musil kann sich bei seiner prononciert modernistischen Konzeption von
âEigenschaftslosigkeitâ, mit der er die herkömmliche Vorstellung eines indivi-
duell besonderen Romanhelden15 konterkariert, auch â und dieser Kontext
wurde von der bisherigen Forschung ĂŒbersehen â auf seinen psychologischen
GewĂ€hrsmann Ernst Kretschmer stĂŒtzen, der die psychosozialen Grundlagen
des Charakters folgendermaĂen umrissen hat :
14 DemgegenĂŒber diagnostiziert Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 284,
beim Mann ohne Eigenschaften âeine fundamentale Ganzheitsorientierung. Das Wirkliche
ist das disparat Vereinzelte. Dagegen eröffnet sich von dem hinter alle Wirklichkeit zurĂŒck-
genommenen Fluchtpunkt der Innerlichkeit die SphÀre der Möglichkeiten als Reich innerer
Ganzheit. Der ursprĂŒngliche Mensch ist auch der ganzheitliche Mensch, und auf ursprunghafte
Ganzheitserfahrung legt Musil gröĂten Wert.â Ăhnlich Kremer : Die endlose Schrift, S. 440, der
unter Berufung auf Laermann behauptet, dass Musil den âsozialpsychologischen Zustand der
Entzauberung und Instrumentalisierung des Subjektsâ in ânegativer Intentionâ belichte und ihm
ââeine unbedingte und einheitliche Selbstbehauptung gegen die vielgestaltige Zerrissenheit der
AuĂenwelt und des Ichâ positivâ entgegenstelle.
15 Vgl. dazu Bauer : Die âAuflösung des anthropozentrischen Verhaltensâ im modernen Roman,
S. 681 : âDie Interessantheit der Figur wurde [âŠ] seit dem Historismus des 18. Jahrhunderts
und in steigendem MaĂe durch das 19. Jahrhundert hindurch in der individuellen Besonderheit
gesehen. Gerade indem der Dichter ihre Eigenheit erfaĂt, bringt er sie dem Leser nĂ€her und
macht einen zwingenden Eindruck auf ihn, da das bestimmte Sosein den Anspruch der Figur auf
RealitĂ€t, also auch auf Verkörperung einer realen und fĂŒr andere interessanten Daseinsmöglich-
keit beglaubigt.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208