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177Grundbegriffe
des Romankonzepts
Man ist frĂŒher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute. Die Menschen
glichen den Halmen im Getreide ; sie wurden von Gott, Hagel, Feuersbrunst, Pesti-
lenz und Krieg wahrscheinlich heftiger hin und her bewegt als jetzt, aber im ganzen,
stadtweise, landstrichweise, als Feld, und was fĂŒr den einzelnen Halm auĂerdem noch
an persönlicher Bewegung ĂŒbrig blieb, das lieĂ sich verantworten und war eine klar
abgegrenzte Sache. Heute dagegen hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht
im Menschen, sondern in den SachzusammenhĂ€ngen. Hat man nicht bemerkt, daĂ
sich die Erlebnisse vom Menschen unabhÀngig gemacht haben ? Sie sind aufs Theater
gegangen, in die BĂŒcher, in die Berichte der ForschungsstĂ€tten und Forschungsreisen,
in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens
auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch, und
sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der
Luft ; wer kann da heute noch sagen, daĂ sein Zorn wirklich sein Zorn ist, wo ihm so
viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er ? ! (MoE 150)
In der modernen Welt verdrĂ€ngt demnach die Wirkung von âSachzusammen-
hĂ€ngenâ die Position des selbstbewussten und selbstbestimmten Individuums,
scheinbar individuelle, subjektive GefĂŒhle und ĂuĂerungen erweisen sich als
exemplarisch fĂŒr ein ĂŒberindividuelles, objektives Geschehen, aus dem heraus
sie wiederum erklĂ€rt werden mĂŒssen, wie der gestalttheoretisch versierte Ul-
rich weiĂ : âDer Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren
Wesen und Natur erschienen ihm abhÀngig von den UmstÀnden, die sie um-
gaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so,
bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten.â (MoE 250) Daraus
zieht der ErzĂ€hler stellvertretend fĂŒr seinen Protagonisten Ulrich folgende er-
kenntnistheoretische Konsequenz :
Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne
den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch ĂŒberhaupt
nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Ver-
antwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle.
Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Men-
schen so lange Zeit fĂŒr den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit
Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt, denn der Glaube,
und sozialen Eigenschaften ist, kĂ€me allen Beschreibungen eine GĂŒltigkeit nur in den Grenzen
eines Stadiums oder eines Raums zu. Mit anderen Worten, nur um den Preis einer gewaltigen
Abstraktion kann er als Beweis fĂŒr die IdentitĂ€t der Person als einer sozial feststehenden Indivi-
dualitĂ€t dienen.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208