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185Grundbegriffe
des Romankonzepts
Der romaneske âRaum des Möglichenâ definiert sich in differenzieller Rela-
tion zu den in verschiedenen sozialen RĂ€umen jeweils herrschenden âWirk-
lichkeitenâ, die sich aus seiner Perspektive eben wie zu RealitĂ€ten versteinerte
ehemalige Möglichkeiten ausnehmen, und hat deshalb stets eine ihnen homo-
loge Struktur. Keineswegs aber kann aus der differenziellen Relation zwischen
âMöglichkeitenâ und âWirklichkeitenâ auf eine âgeheime IdentitĂ€tâ Ersterer
âmit der Welt der neun anderen Charaktereâ geschlossen werden, wie Laer-
mann unter Rekurs auf essenzialistische Wirklichkeits- und Subjektvorstellun-
gen suggeriert.45 Damit wÀre jede kreative Leistung der Phantasie im Sinne
einer VerÀnderbarkeit von Welt, die doch ein zentrales Element der Poetik
des Mann ohne Eigenschaften bildet46, ein fĂŒr alle Mal ausgeschlossen. Dem
ErzĂ€hler des Musilâschen Romans scheint es hingegen unmöglich, angesichts
der sozial induzierten, verwirrenden und widersprĂŒchlichen Charakterviel-
falt ĂŒberhaupt einen charakterlichen Kern des einzelnen, nur der Etymologie
nach âunteilbarenâ Individuums auszumachen. Bewusste âEigenschaftslosigkeitâ
im Sinne eines Offenhaltens von Möglichkeiten ist demzufolge eine schlĂŒssige
Konsequenz aus der beschriebenen Misere und als radikale WiderstÀndigkeit
zu interpretieren.
Entsprechendes hat Musil bereits in seiner Kurzgeschichte Ein Mensch ohne
Charakter (1927) diskutiert, deren titelgebender Held âso etwas wie ein Pio-
nier oder VorlĂ€ufer istâ (GW 7, 534), aber die schmerzliche Erfahrung machen
muss, âwieviel bequemer [!] es wĂ€re, als einzigen Charakter seinen eigenen
zu besitzenâ (GW 7, 536 ; vgl. GW 7, 595 u. 598). Daran hindert ihn etwa
der âBerufscharakterâ, da man sich erfahrungsgemÀà nicht âdagegen wehrenâ
kann, einen solchen âanzunehmenâ, ihm gar ânicht entgehen kannâ (GW 7,
537).47 Neben den ererbten Eigenschaften und dem ihm auferlegten âBerufs-
charakterâ erwirbt der heranwachsende Mann48 im Verlauf seiner Sozialisation
45 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 13. Die von Musils ErzĂ€hler apostrophierte âpassive Phan-
tasie unausgefĂŒllter RĂ€umeâ (MoE 34) sei ânichts als das abstrakte Modell beliebig vertausch-
barer Funktionselemente, das die Struktur der AuĂenwelt kennzeichnetâ. In der Folge verfĂ€llt
Laermanns Kritik vollends jenem kruden Substanzialismus der âEigentlichkeitâ, den Musils Kon-
zeption gerade aufzuheben bestrebt ist : âDas Individuum ist nicht nur den Rollen entfremdet,
in denen seine IndividualitÀt nicht aufgeht, es ist zugleich sich selbst entfremdet ; denn der Ort,
an dem die Wahrheit [!] seiner Person ihm erscheinen soll, erweist sich als bloĂer Reflex der
irrationalen FaktizitĂ€t der Ă€uĂeren Wirklichkeitâ.
46 Vgl. Kap. I.3.2.
47 Die fĂŒr den NachlaĂ zu Lebzeiten (1936) ĂŒberarbeitete zweite Fassung mit dem leicht verĂ€nder-
ten Titel Der Mensch ohne Charakter formuliert hier vorsichtiger, âdaĂ an dieser Sache mit dem
Berufscharakter wirklich etwas daran istâ (GW 7, 598).
48 Dies gilt selbstredend gleichermaĂen fĂŒr Frauen, wie eine ErgĂ€nzung fĂŒr die Fassung von 1936
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208