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191Grundbegriffe
des Romankonzepts
tischeâ Interpreten insbesondere der siebziger Jahre denn auch so eingeschos-
sen haben, als handle es sich nicht um eine literarische Figur mit einer ihr zu-
grunde liegenden differenzierten Àsthetischen Konzeption.66 Andererseits ist
Ulrich aber im âeigentlichenâ Sinn gar nicht eigenschaftslos ; ihm fehlt nur die
FĂ€higkeit und auch der Wille, mit seinen durchaus vorhandenen Eigenschaf-
ten in der sozialen âWirklichkeitâ so selbstverstĂ€ndlich â gleichsam ânatĂŒrlichâ
â umzugehen, wie es âdie Gesellschaftâ von ihm erwartet :
In wundervoller SchĂ€rfe sah er [âŠ] alle von seiner Zeit begĂŒnstigten FĂ€higkeiten und
Eigenschaften in sich, aber die Möglichkeit ihrer Anwendung war ihm abhandenge-
kommen ; und da es schlieĂlich, wenn schon FuĂballspieler und Pferde Genie haben,
nur noch der Gebrauch sein kann, den man von ihm macht, was einem fĂŒr die Ret-
tung der Eigenheit ĂŒbrigbleibt, beschloĂ er, sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu
nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner FĂ€higkeiten zu suchen. (MoE 47)
Am Romanbeginn steht somit âdie Suspendierung scheinbar aller Rollenbe-
zĂŒge des Heldenâ, die âseine Eigenschaftslosigkeitâ erst âbegrĂŒndetâ.67 Bezeich-
nend ist dabei, dass Ulrich, der âBruchstĂŒcke einer neuen Art zu denken wie
zu fĂŒhlenâ besitzt (MoE 47), nach einer âRettung der Eigenheitâ strebt, âum
eine angemessene Anwendung seiner FĂ€higkeiten zu suchenâ. Die missver-
stÀndliche Formulierung kann wohl kaum mit einer angeblichen Absicht des
Protagonisten gleichgesetzt werden, âseine IdentitĂ€t rein zu bewahren und ge-
gen die PluralitĂ€t normierter Verhaltenserwartungen zu verteidigenâ68. Allein
die Wendung gegen normierte Rollenbilder, nicht aber die Vorstellung einer
âreinen IdentitĂ€tâ lĂ€sst sich mit Musils negativer Anthropologie vermitteln. Die
zitierte Passage ist wohl in erster Linie als Ulrichs â im Roman nicht notwendig
erfĂŒllte â Sehnsucht nach einer Neujustierung seiner âEigenschaftenâ zu deuten.
Jenseits der spezifischen, sozialpsychologisch bedingten Charakterausbil-
dung des mĂ€nnlichen Romanhelden drĂŒckt sich in dessen habitueller Struktur
freilich auch eine darin angelegte allgemeinere Symptomatik aus, die Musil im
besagten Brief an den Freund Johannes von Allesch vom 15. MĂ€rz 1931 ange-
sprochen hat ; es geht um das Bewusstsein, mit dem Mann ohne Eigenschaf-
ten offenbar âeinen Zeittypus getroffenâ zu haben (Br 1, 504 f.). Wie könnte
das gemeint sein, nachdem doch alle Menschen im Sinne des Gestaltlosig-
keitstheorems als mehr oder weniger amorphe âWesenâ zu betrachten sind ?
66 Vgl. etwa Laermann : Eigenschaftslosigkeit, passim.
67 Ebd., S. 11.
68 Ebd., S. 12.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208