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195Grundbegriffe
des Romankonzepts
dringung durchaus einlÀsst, allererst neue Möglichkeiten und Konstellationen
eruiert :
Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigen-
schaft haben, durch die es eines Tags teil hat an einem groĂen, neuen Zusammen-
hang. Er haĂt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stĂŒnde es ein fĂŒr allemal
fest, die groĂen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdruck, den ge-
friedeten Charakter. Er hĂ€lt kein Ding fĂŒr fest, kein Ich, keine Ordnung ; weil unsre
Kenntnisse sich mit jedem Tag Àndern können, glaubt er an keine Bindung, und alles
besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nÀchsten Akt der Schöpfung, wie ein Ge-
sicht, zu dem man spricht, wÀhrend es sich mit den Worten verÀndert. (MoE 153 f.)
Eine (hier einmal positiv verstandene) Eigenschaft erweist sich im Lichte des
âGeistesâ betrachtet77 weniger als einschrĂ€nkende Festschreibung denn viel-
mehr als Potenzial zukĂŒnftiger sozialer ZusammenhĂ€nge. Abgelehnt wird da-
gegen jeder Glaube an die UnverÀnderlichkeit des bestehenden Status quo,
jede Form gesellschaftlich produzierter âSoziodizeeâ, deren Strategien nach
Bourdieu âdarauf abzielen, die Herrschaft und deren Fundament [âŠ] zu legiti-
mieren, indem sie naturalisiert werdenâ78.
Folgt man der hier vertretenen Deutung des Mannes ohne Eigenschaften
als Mensch, der sich von der ĂŒberkommenen Vorstellung des emphatisch ver-
standenen â in sich konsistenten und konstanten, mit sich selbst identischen
und freien bzw. selbstbestimmten â Subjekts angesichts der wissenschaftli-
chen Erkenntnisse der Moderne verabschiedet hat, dann besteht in der da-
raus resultierenden Aufhebung des Individuationsprinzips eine bezeichnende
SchnittflĂ€che mit einer anderen, durchaus ergĂ€nzenden Definition von âEi-
genschaftslosigkeitâ, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, aber aufgrund
intensiver Erforschung schon hinreichend bekannt sein dĂŒrfte : gemeint ist
deren traditionelles ideengeschichtliches VerstÀndnis im Kontext des Mys-
tikdiskurses.79 Ulrichs oben angesprochenes Streben nach einer âRettung der
Eigenheitâ mit dem Ziel, âeine angemessene Anwendung seiner FĂ€higkeiten
77 Musil könnte zu dieser Beobachtung durch eine Diagnose von Georg Simmel angeregt worden
sein ; vgl. Simmel : Philosophie des Geldes, S. 595 : âDer Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist
absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen QualitÀt, son-
dern weil er ganz jenseits der auswĂ€hlenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht.â
78 Bourdieu : Der Staatsadel, S. 331 ; vgl. ebd., S. 94 u. 322, sowie Bourdieu : Der Rassismus der
Intelligenz, S. 252 ; mehr dazu unten in Kap. I.3.2.
79 Vgl. Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 338â347 ; Schmidt :
Ohne Eigenschaften, S. 46â63 ; Frank : Auf der Suche nach einem Grund, S. 331â353.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208