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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Seite - 206 -
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Seite - 206 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

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206 Teil I: Grundlegung Welten“111. Nicht von ungefĂ€hr hatte die Leibniz’sche Lösung des Theodizee- Problems schon den Spott Voltaires auf sich gezogen112, was Musil nicht ver- borgen geblieben ist.113 Indem nun Ulrich als eine Art neuer Candide der Welt und der menschlichen Geschichte ‚unzureichende GrĂŒnde‘ attestiert, verlieren diese bei ihm jede ontologische Rechtfertigung fĂŒr ihr So-Sein, weil sie eben keineswegs die denkbar bestmöglichen sind.114 Im Lichte des ‚Möglichkeits- sinns‘ lĂ€sst er sie im Gegenteil als durchaus verbesserungswĂŒrdig und verbes- serungsbedĂŒrftig erscheinen.115 Dieser bisher unterbelichtete philosophische tieren könne, „oĂč il n’y a aucune raison suffisante ni dans la cause efficiente ni dans la finale“ (Bd. 2, S. 160), zu Deutsch : „bei dem ein zureichender Grund weder in der Wirkursache noch im Endzweck vorhanden ist“ (Bd. 2, S. 161). AusfĂŒhrlichere Bemerkungen zum ‚Prinzip des zu- reichenden Grundes‘ finden sich in den AnhĂ€ngen II und III, die in der hier zitierten Ausgabe nicht abgedruckt sind. 111 Vgl. Leibniz : Die Theodizee, Tl. I, § 8 : „[O]n peut dire [
] en matiĂšre de parfaite sagesse, qui n’est pas moins rĂ©glĂ©e que les mathĂ©matiques, que s’il n’y avait pas le meilleur (optimum) parmi tous les mondes possibles, Dieu n’en aurait produit aucun.“ (Bd. 1, S. 218) Zu Deutsch : Man könne „bezĂŒglich der Weisheit, die nicht minder geregelt ist als die Mathematik, behaupten, daß, wenn es keine beste (optimum) unter allen möglichen Welten gĂ€be, Gott gar keine geschaf- fen haben wĂŒrde“ (Bd. 1, S. 219). Die Formel kehrt an zahlreichen Stellen des Textes in den verschiedensten Abwandlungen wieder, etwa in Tl. II, § 196, wo wörtlich von „la crĂ©ation du meilleur de tous les univers possibles“ (Bd. 1, S. 550) die Rede ist, zu Deutsch : von der „Erschaf- fung der besten aller möglichen Welten“ (Bd. 1, S. 551). In seinem Arbeitsheft 30 bezeichnet Musil ĂŒbrigens die Schweiz (wohl nicht ganz ohne Ironie) als „beste aller Welten“ (Tb 1, 811). 112 Hier ist neben Voltaires PoĂšme sur le dĂ©sastre de Lisbonne (1756) vor allem an seinen Roman Candide ou l’optimisme (1759) zu denken, dessen erstes Kapitel ĂŒber den leibnizianischen Phi- losophen Pangloss, den Hauslehrer des westfĂ€lischen Barons Thunder-ten-tronckh, u. a. sar- kastisch berichtet : „Il prouvait admirablement qu’il n’y a point d’effet sans cause, et que, dans ce meilleur des mondes possibles, le chĂąteau de montseigneur le baron Ă©tait le plus beau des chĂąteaux, et madame la meilleure des baronnes possibles.“ (Voltaire : Romans et contes, S. 138) 113 Vgl. eine wiederholt notierte Nachlassbemerkung zur „Laientheologie“, die die Voltaire’sche ErzĂ€hlkonstellation unter RĂŒckgriff auf die Philosophenfigur gedanklich weiterspinnt : „Ein Pangloss könnte sagen : Gott hilft nicht den Guten, damit in der besten der Welten die Guten selbst das Böse ausrotten.“ (M III/5/53 ; vgl. Tb 1, 805) Eine Untersuchung ĂŒber das VerhĂ€ltnis Musils zu Voltaire steht meines Wissens noch aus. 114 Schon der junge Ulrich hat in einem Schulaufsatz die antileibnizianische These aufgestellt, „daß wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden
), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein“ (MoE 19). 115 Dazu und zu den ideengeschichtlichen ZusammenhĂ€ngen auch die kursorischen Bemerkun- gen in Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil, S. 38–43 ; ferner Schmidt : Die Ge- schichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 282 f. Johnston : Österreichische Kultur- und Geistes- geschichte, S. 279, resĂŒmiert die Leibniz’sche Position dagegen wie folgt : „Ein reflektierender Geist, der sich an der Ausgewogenheit der KrĂ€fte, die er betrachtet, ergötzen kann, hat alle Ursache, sich an der Schöpfung zu erfreuen.“
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Titel
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Untertitel
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Autor
Norbert Christian Wolf
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2011
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
1224
Schlagwörter
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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