Seite - 208 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 208 -
Text der Seite - 208 -
208 Teil I: Grundlegung
darunter das Wort âhypothetisch lebenâ. Es drĂŒckte noch immer den Mut und die
unfreiwillige Unkenntnis des Lebens aus, wo jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfahrung
ist, und den Wunsch nach groĂen ZusammenhĂ€ngen und den Hauch der Widerruf-
lichkeit, den ein junger Mensch fĂŒhlt, wenn er zögernd ins Leben tritt. Ulrich dachte,
daĂ davon eigentlich nichts zurĂŒckzunehmen sei. Ein spannendes GefĂŒhl, zu irgend-
etwas ausersehen zu sein, ist das Schöne und einzig Gewisse in dem, dessen Blick
zum erstenmal die Welt mustert. Er kann, wenn er seine Empfindungen ĂŒberwacht,
zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen ; er sucht die mögliche Geliebte, aber weià nicht,
ob es die richtige ist ; er ist imstande zu töten, ohne sicher zu sein, daĂ er es tun muĂ.
Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln, verbietet ihm, an das Vollendete
zu glauben ; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wÀre. Er ahnt :
diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt ; kein Ding, kein Ich, keine Form,
kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden
Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die
Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, ĂŒber die man noch nicht hinausgekommen
ist. (MoE 249 f.)
Im Lichte des âMöglichkeitssinnsâ, dieser hypothetischen Zugangsweise zur
herrschenden Wirklichkeit, erhellt wiederum die erkenntniskritische Funk-
tion von Ulrichs programmatischer âEigenschaftslosigkeitâ, seiner Distanz ge-
genĂŒber den scheinbar unabĂ€nderlichen âTatsachenâ der bestehenden Welt
(MoE 250) : âWer hypothetisch lebt, zögert, sich auf irgend etwas festzulegen.
Alle Verfestigung ist unexakt, unterdrĂŒckt den hypothetischen Charakter der
Ordnungen.â120
In dem MaĂ, in dem er seinem jugendlichen Illusionismus entwĂ€chst121
und zu âgemehrtem geistigen Vermögenâ gelangt, komplettiert Ulrich indes
seine zunĂ€chst vage âVorstellungâ, âdie er nun nicht mehr mit dem unsiche-
ren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten GrĂŒnden mit dem eigentĂŒmli-
120 Frey : Musils Essayismus, S. 235.
121 Musils Verabschiedung der Kategorie der âNotwendigkeitâ (vgl. Kap. I.2.1 u. I.2.2) macht auch
vor den âEigenschaftenâ der Jugend nicht halt, wie eine desillusionierte Reflexion des ErzĂ€h-
lers ĂŒber die jugendliche âGegenkraftâ zeigt, die sich an den herrschenden Ordnungen reibe :
âDiese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziel-
losen Fluchtbewegungen aus ; der Spott der Jugend, ihre Auflehnung gegen das Bestehende,
die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen,
ihr feuriger Ernst und ihre UnbestĂ€ndigkeit, â alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegun-
gen. Im Grunde drĂŒcken diese bloĂ aus, daĂ nichts von allem, was der junge Mensch unter-
nimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheintâ (MoE 131). Indem Ulrichs
reflektiertes âMöglichkeitsdenkenâ vom allgemeinen jugendlichen Illusionismus abgehoben
wird, erhÀlt es erst konzeptionelles Gewicht und erzÀhllogische Triftigkeit.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208