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209Grundbegriffe
des Romankonzepts
chen Begriff eines Essaysâ122 verbindet : âUngefĂ€hr wie ein Essay in der Folge
seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfas-
sen, â denn ein ganz erfaĂtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang
und schmilzt zu einem Begriff ein â glaubte er, Welt und eigenes Leben am
richtigsten ansehen und behandeln zu können.â (MoE 250) Das essayistische
WeltverhÀltnis verzichtet auf den darstellerischen TotalitÀtsanspruch und zu-
gleich auf die Festigkeit ein fĂŒr allemal definierter Begriffe, wie sie in systema-
tischer Philosophie und Wissenschaft vorausgesetzt werden.
Die solcherart manifest werdende Kritik Musils am âeingeschmolzenenâ und
somit reduzierten abstrakt-begrifflichen Denken123 lÀsst sich unter anderem
auf die bereits diskutierte Kategorie der âformelhaften VerkĂŒrzungâ zurĂŒckfĂŒh-
ren, die in Kretschmers Medizinischer Psychologie eine wichtige Rolle spielt.
Demnach
kann das abstrakte Denken, auf dem alle höhere Kulturentwicklung beruht, zum Teil
als eine fortschreitende formelhafte VerkĂŒrzung der Bildserien aufgefaĂt werden. Die
Ideen und abstrakten Begriffe sind kein ganz selbstĂ€ndiges geistiges Reich fĂŒr sich
ĂŒber oder neben der Sinnenwelt, sondern in manchem Abstraktum stecken, Ă€uĂerst
komprimiert, die Einzelbilder noch drin. Wir können den Bildsinn der Abstrakte :
âBegriffâ oder âGegenstandâ, das âgreifenâ oder âGegenĂŒberstehenâ noch leise heraus-
fĂŒhlen.124
122 Warum und inwiefern der Begriff âHypotheseâ nicht ganz der essayistischen Intention Ulrichs
entspricht, erlĂ€utert Frey : Musils Essayismus, S. 235 f.: âDie Hypothese ist verifizierbar. Sie ist
jene Phase im ErkenntnisprozeĂ, in der man die Grenze des Bekannten ĂŒberspringt und einen
Zusammenhang annimmt, der anschlieĂend durch die BeweisfĂŒhrung sichergestellt oder als
falsch erwiesen werden muĂ. Die Hypothese erweckt die Vorstellung eines linearen Fortschrei-
tens, das sich als Fortschritt gestaltet, und in dessen Verlauf das Wissen sich mehrt. Aber ein
Wechsel der Ordnungen, wie er Ulrich vorschwebt, ist kein solcher Fortschritt. Keine Ordnung
ist sicherer als die andere, und alle sind gleich hypothetisch. Keine vermag eine andere end-
gĂŒltig auĂer Kraft zu setzen. Keine, zu der man gelangt, ist die richtige, weshalb man jede wie-
der verlassen muĂ, ohne daĂ die andere, die man im Augenblick dieses Wechsels bevorzugt,
die bessere zu sein braucht. Dieser schlieĂlichen Gleichwertigkeit der beliebigen Ordnungen
wird das Wort Hypothese nicht gerecht genug, denn es ist miĂverstĂ€ndlich, solange man die
Hypothese als etwas VorlĂ€ufiges betrachtet, das spĂ€ter durch etwas EndgĂŒltiges ersetzt wird,
wĂ€hrend bei Musil gerade umgekehrt die VorlĂ€ufigkeit der Hypothese das einzige EndgĂŒltige
ist.â Ăhnlich argumentiert Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 30 f.
123 Vgl. die âUnfreundliche Betrachtungâ Schwarze Magie (zuerst 1923) aus dem NachlaĂ zu Leb-
zeiten (1935), worin Musil âeine feste, eindeutige, gleichbleibende Beziehungâ zum âWesen des
Begriffsâ erklĂ€rt und die âerlebten Vorstellungenâ den âvon ihnen abgezogenen Begriffenâ ent-
gegensetzt (GW 7, 502) ; dazu Wolf : âWer hat dich, du schöner Wald⊠?â, S. 203.
124 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 18.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208