Seite - 214 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 214 -
Text der Seite - 214 -
214 Teil I: Grundlegung
deten kollektiven Unbehagen angesichts der Begleiterscheinungen des
âscholastischen Blicksâ auf die Welt. Bourdieu hat die Implikationen dieses
âscholastische[n] Epistemozentrismusâ136, der auf dem Ausschluss der (para-
doxerweise zunĂ€chst auch von Ulrich aus dem Begriff des Essayismus âausge-
schaltetenâ) affektiven âBestandteileâ beruht (gemeint ist wohl insbesondere
die von Musils ErzÀhler zu einem konstitutiven Element des Denkens erho-
bene âLeidenschaftâ137), im Rahmen seiner eigenen Theorie folgendermaĂen
umrissen :
Die kollektive und individuelle Eroberung des souverÀnen, rÀumlich wie auch zeit-
lich in die Ferne schweifenden Blicks, der auf Kosten der VerdrÀngung kurzfristiger
GelĂŒste oder des Aufschubs ihrer Befriedigung [âŠ] zu planen und dementsprechend
zu handeln ermöglicht, wird mit einer intellektualistischen ZĂ€sur bezahlt [âŠ] : mit
einem Bruch zwischen dem als ĂŒbergeordnet wahrgenommenen Intellekt und dem
fĂŒr untergeordnet gehaltenen Körper ; zwischen den abstraktesten Sinnen, dem Se-
hen und dem Hören [âŠ], und den âsinnlichstenâ Sinnen ; zwischen dem âreinenâ Ge-
schmack fĂŒr die âreinenâ KĂŒnste, das heiĂt die durch gesellschaftliche Abstraktions-
prozesse und -prozeduren wie Perspektive oder tonales System gereinigten, und dem
âGeschmack der Zunge und des Schlundesâ, von dem Kant sprechen wird â kurz,
zwischen all dem, was wahrhaft dem Bereich der Kultur entspringt, diesem Ort aller
Sublimierungen und Springpunkt aller Distinktionen, und dem, was dem Bereich der
â weiblichen und volksnahen â Natur angehört.138
Die Verneinung jeglicher Beteiligung der âsinnlichstenâ Sinne am Denkvorgang
bildet demnach die Kehrseite abstrakter begriffslogischer Reflexion ; sie muss
fĂŒr Musil, der entschieden an einer Aufhebung des ĂŒberkommenen âGrund-
dualismus von Seele und Körper (oder dem von Verstehen und FĂŒhlen)â139
arbeitet, einen steten Stein des AnstoĂes bedeuten. Genau hier setzt der tas-
136 Ebd., S. 65. Es handelt sich dabei um eine Adaptation der poststrukturalistischen Logozentris-
muskritik.
137 Frey : Musils Essayismus, S. 244, identifiziert die von Ulrich aus dem Begriff des Essayismus
ausgeschalteten Elemente hingegen mit dessen angeblichem âHang zum Unsicheren und
Unscharfenâ, die seine âTendenz zur Exaktheitâ konterkariere ; dies scheint mir insofern nicht
plausibel, als Ulrich doch gerade âein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seeleâ zu grĂŒnden
vorschlĂ€gt (MoE 597) und auch der ErzĂ€hler wie Musil selbst die PhĂ€nomene âGenauigkeitâ
und âSeeleâ gerade nicht einander unversöhnt gegenĂŒberstellen will, sondern sie so zu vermit-
teln sucht, dass Genauigkeit auch in Fragen der Seele vorwalte (vgl. etwa GW 8, 1092).
138 Bourdieu : Meditationen, S. 34 f.
139 Ebd., S. 35.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208