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215Grundbegriffe
des Romankonzepts
tende Versuch einer Definition des Wortes âEssayâ im Munde seines ErzĂ€hlers
an :
Die Ăbersetzung des Wortes Essay als Versuch, wie sie gegeben worden ist, enthĂ€lt
nur ungenau die wesentlichste Anspielung auf das literarische Vorbild ; denn ein Essay
ist nicht der vor- oder nebenlĂ€ufige Ausdruck einer Ăberzeugung, die bei besserer
Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebensogut aber auch als Irrtum erkannt werden
könnte (von solcher Art sind bloà die AufsÀtze und Abhandlungen, die gelehrte Per-
sonen als âAbfĂ€lle ihrer WerkstĂ€tteâ zum besten geben) ; sondern ein Essay ist die ein-
malige und unabÀnderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem
entscheidenden Gedanken annimmt. (MoE 253)
Die Rede vom âinneren Leben eines Menschenâ, das sich im Essay jeweils
kondensiert, verweist auf die konstitutive Beteiligung affektiver Elemente an
dessen Entstehung und Gestalt â ganz im Unterschied zu den begriffslogi-
schen PrĂ€tentionen systematischer Philosophie, die sich ĂŒberdies auf einen
auszudrĂŒckenden Gehalt konzentriert. In seiner textnahen LektĂŒre des Es-
sayismus-Kapitels I/62 hat Hans-Jost Frey die zwei hier einander gegenĂŒber-
gestellten âRedensartenâ in letzterer Hinsicht genauer charakterisiert : âDie
eine [âŠ] nimmt die Ăberzeugung als etwas vom Ausdruck UnabhĂ€ngiges an.
Die Ăberzeugung ist etwas, das man hat, und sie besteht darin, daĂ man das,
wovon man ĂŒberzeugt ist, zu haben glaubt. Reden ist nur noch Vermittlung
von etwas, worĂŒber man verfĂŒgt.â140 Diese Vorstellung einer unabhĂ€ngig von
ihrer sprachlichen Vermittlung bestehenden, vorgÀngigen Wahrheit bildet
nach Frey nun die Negativfolie, vor der Musils ErzÀhler seine Bestimmung des
Essays poetologisch profiliert :
Bei der anderen Redeweise [âŠ] gibt es keine auĂerhalb und ĂŒber der Rede stehende
Instanz mehr, die souverÀn ist und den Vorgang beherrscht, sondern die Rede ist
die Gestalt, die das in ihr ausgedrĂŒckte innere Leben im sprachlichen Vollzug erst
gewinnt. Daran ist Unkontrollierbares beteiligt, Regungen, die man nicht in der Hand
hat [âŠ], und die gewĂ€hren zu lassen mit zur essayistischen Lebenshaltung gehört.141
Wie unten noch ausfĂŒhrlicher auseinandergesetzt werden soll, integriert Mu-
sil programmatisch unkontrollierbare Regungen menschlicher Sinnlichkeit in
seine Definition des Essays, âbis statt des schattenhaften der volle körperli-
140 Frey : Musils Essayismus, S. 246.
141 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208