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216 Teil I: Grundlegung
che Einklang [mit der geistigen Vision] dastehtâ, ohne die âsoziale Seiteâ aus-
zublenden (GW 9, 1480).142 Er stellt sich ausdrĂŒcklich in eine Differenz zur
wissenschaftlichen Praxis, aus der sich die sinnlichen Regungen und sozialen
Implikationen ebenso programmatisch, ja gleichsam klinisch ausgeschlossen
finden. DarĂŒber hinaus fallen an Musils Begriffsbestimmung die Wörter âein-
maligâ und âunabĂ€nderlichâ auf, die sich scheinbar gegenseitig aufheben :
Die Einmaligkeit erinnert an die Unreduzierbarkeit des Besonderen auf das Allge-
meine, wĂ€hrend die UnabĂ€nderlichkeit mit der frĂŒheren und mit der essayistischen
Haltung wesentlich verbundenen Einsicht, daĂ es nichts Festes und Vollendetes gibt,
im Widerspruch steht [âŠ]. Aber was hier unabĂ€nderlich genannt wird, ist nicht ein
mitgeteilter Inhalt, der als Wahrheit ausgegeben wird, sondern die sprachliche Ge-
stalt, die das Innere gewinnt, also die Bewegung der Sprachwerdung selbst. Diese ist
unwiederholbar und die unter den UmstÀnden des Augenblicks bestmögliche. Sie ist
nicht unabĂ€nderlich, weil sie endgĂŒltig, sondern weil sie unter den einmaligen Um-
stÀnden richtig ist.143
Die Unvereinbarkeit zwischen den auf der Basis fester Begrifflichkeit und
nach genauen methodischen Verfahrensregeln hergeleiteten Resultaten der
objektiven Wissenschaft, die auf Wiederholbarkeit und damit intersubjektive
Nachvollziehbarkeit ihrer Experimente pocht144, und den aus einem einzigar-
tigen, affektiv âbewegtenâ Augenblick geborenen âErkenntnissenâ des Essayis-
mus wird von dieser Seite offensichtlich145 ; Musils ErzÀhler gibt denn auch zu
bedenken :
Nichts ist ĂŒbrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfahrung, die man mit ge-
lehrten und vernĂŒnftigen Versuchen macht, solche groĂe Essayisten auszulegen, die
Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln und der Bewegung
142 Die hier zitierten Formulierungen stammen freilich aus einem anderen Kontext, nÀmlich aus
Musils Artikel zum Moskauer KĂŒnstlertheater vom 24.4.1921 (GW 9, 1480).
143 Frey : Musils Essayismus, S. 246 f.
144 Die dennoch allenthalben anzutreffende naturwissenschaftliche Terminologie in âMusil/Ul-
richs Wortschatzâ dient nach Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil, S. 34, der âEr-
fassung menschlicher VerhĂ€ltnisse, geistiger VorgĂ€nge, moralischer PhĂ€nomeneâ â der Skizze
der Erkenntnis des Dichters (vgl. GW 8, 1028 f.) zufolge also wiederum einer eher essayistischen
bzw. dichterischen und nicht streng wissenschaftlichen Aufgabe.
145 Zur dennoch beanspruchten âAllgemeingĂŒltigkeit des Essaysâ, die indes âder Versuchung der
fahrlĂ€ssigen Verallgemeinerung widerstehtâ, vgl. die Bemerkungen von Frey : Musils Essayis-
mus, S. 247.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208