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223Grundbegriffe
des Romankonzepts
heit herrscht und die Wahrscheinlichkeit mehr als eine AnnÀherung an die
Wahrheit istâ (GW 8, 1335). Gemeint sind damit jene âObjekte, die man [âŠ]
nicht einer logischen Betrachtung unterziehen kann, weil sie nicht identisch
genug bleibenâ163. Dies heiĂt aber keineswegs, dass man gĂ€nzlich auf deren ra-
tional kontrollierte Betrachtung verzichten und sich in begriffslosen Ahndun-
gen ergehen solle. Musil differenziert weiter : âDas intuitive Erkennen wurde
in einen Gegensatz zu dem gewöhnlichen gestellt und getrachtet, daraus die
DignitÀt der mystischen Erkenntnis abzuleiten. Intuition gibt es auch im rein
rationalen Bezirke. [âŠ] Die mystische Funktion ist aber nicht diese Intuition,
sondern eine weit umfassendere und begrifflich weniger reine.â (GW 8, 1336,
nach M IV/1/5) Insofern ist weder der Intellekt mit der rationalen Funktion
noch die Intuition mit der mystischen Funktion gleichzusetzen.164 Bei seiner
BeweisfĂŒhrung rekurriert Musil unter anderem auf eigene Einsichten, die er
seit seiner Berliner Studienzeit in zahlreichen Ăberlegungen und Notizen zur
GefĂŒhlstheorie165 gesammelt hat :
Der Mensch denkt nicht nur, sondern fĂŒhlt, will, empfindet, handelt. Wie es rein
automatische Handlungen gibt, ohne Beteiligung des Denkens, so gibt es auch rein
rationale Gedanken ohne Beteiligung des GefĂŒhls oder Willens. Und es gibt auch an-
dere. Wenn uns ein Gedanke ergreift, umstĂŒrzt usw., so tut er auf dem senti-mentalen
Gebiet das, was eine revolutionierende Erkenntnis auf dem rein rationalen tut. Die
Tiefe seiner Wirkung ist ein Zeichen, wie groĂe GefĂŒhlsmassen in Mitleidenschaft
gezogen sind. Massen ; denn hier handelt es sich nicht um GefĂŒhle im engeren Sinn
des terminus, sondern um GrundgefĂŒhle, GefĂŒhlsdispositionen, wie sie die Indivi-
dualitÀt ausmachen. Es ist das noch ein wenig untersuchtes Gebiet. Aber man kann
annehmen, daĂ hier ein Faktor die allgemeinen emotionalen Charakteristika des In-
dividuums sind, was man das Temperament genannt hat, die ReagibilitÀt, Reizsam-
keit usw. eine verhĂ€ltnismĂ€Ăig stabile Anlage ; ein andrer Faktor die persönlichen,
einschlieĂlich der geistigen, Erlebnisse. Diese sind aufbewahrt in einer Summe von
Komplexen, durcheinandergewirkt mit GedankengÀngen. Die Melancholie ist zwar
eine sogenannte GemĂŒtskrankheit, aber sie festigt ihre Herrschaft mit Hilfe der durch
163 Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 19. âEs ist wichtig zu betonen, dass die Metho-
den, welche im Essay auf solche Objekte angewendet werden, genau ihrer Natur entsprechen
und dass es nicht etwa Methoden sind, die wir nur mangels besserer auf sie anwenden.â
164 Vgl. ebd., S. 19 u. 35 f.
165 Vgl. dazu Heydebrandt : Die Reflexionen Ulrichs, S. 117â133 ; BĂŒren : Zur Bedeutung der Psy-
chologie im Werk Musils, S. 127â170 ; Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 135â
141 ; Mulligan : Musils Analyse des GefĂŒhls ; Döring : Ăsthetische Erfahrung als Erkenntnis des
Ethischen ; Misselhorn : Musils GefĂŒhlstheorie im Kontext.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208