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224 Teil I: Grundlegung
sie gefÀrbten GedankengÀnge. Der philosophische Pessimismus, der Stoicismus, die
epikureische Lebensweisheit sind durchaus nicht nur rationale Gebilde, sondern
auch Erlebnisse. Ein rationaler Gedankengang nun kann wahr oder falsch sein, ein
sentimentaler auch, aber er âsprichtâ auĂerdem âanâ oder spricht nicht an. Und es
gibt GedankengĂ€nge, die eigentlich nur durch das zweite wirken. Sie sind fĂŒr einen
Menschen ohne Resonanz völlig wirr und unverstÀndlich. Ersichtlich handelt es sich
hier aber trotzdem um ein ganz legitimes VerstÀndigungsmittel, wenn auch nicht von
bindender Allgemeinheit. [âŠ] Auch der einzelne Mensch erlebt, daĂ der gleiche Ge-
danke das einemal tot fĂŒr ihn ist, eine Reihe von Worten, das andremal lebendig.
(GW 8, 1336, nach M IV/1/5)
Die Anwendung solcher gefĂŒhlstheoretischer Einsichten auf den Komplex
des Essayismus unternimmt Musil in der Folge. Ausgehend von der beweg-
ten âmystischenâ bzw. âintuitiven Erkenntnisâ kommt er auf die âstĂ€ndige Be-
wegung des essayistischen Denkensâ zu sprechen und interessiert sich dabei
insbesondere fĂŒr die meist erhebliche Bedeutung des nichtrationalen bzw.
âsenti-mentalenâ Aspektes jeder Art von GedankengĂ€ngen166 â ganz gleich ob
rationalen oder sentimentalen â fĂŒr die kulturelle Dynamik :
Dieses plötzliche Lebendigwerden eines Gedankens, dieses blitzartige Umschmelzen
eines groĂen sentimentalen Komplexes (eindringlichst versinnlicht in der Pauluswer-
dung des Saulus) durch ihn, so daĂ man mit einemmal sich selbst und die Welt anders
versteht : Das ist die intuitive Erkenntnis im mystischen Sinn. / In kleinerem MaĂe
ist es die stĂ€ndige Bewegung des essayistischen Denkens. GefĂŒhle, Gedanken, Wil-
lenskomplexe sind daran beteiligt. Es sind keine Ausnahmsfunktionen, sondern die
normalen. Aber der Faden eines Gedankens reiĂt die andren aus ihrer Lage und ihre
â wenn selbst nur virtuellen â Umlagerungen bedingen das VerstĂ€ndnis, das Klingen,
die zweite Dimension des Gedankens. (GW 8, 1336 f.)
Mit der Mystik und ihrer Intuition beschĂ€ftigt Musil sich ausdrĂŒcklich âunter
Abstraktion vom Transzendentenâ ; er weiĂ, âum wie viel beschrĂ€nkter der
Kreis unserer Erkenntnis als der unserer Interessen istâ, und scheidet deshalb
aus seiner Haltungs- bzw. Gattungsbestimmung âdie mystischen Interessen
aus, weil ihr Gegenstand metaphysisch ist und weil sie eine Erkenntnis prÀ-
tendieren, wĂ€hrend wir fĂŒr den Essay nur menschliche Umbildung beanspru-
chenâ (GW 8, 1337). Ihn interessiert nicht Ăbersinnliches167, sondern der
166 Vgl. dazu Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 36 f.
167 Mehr dazu in den AusfĂŒhrungen zu Ulrich und Agathe in Kap. II.3.1.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208