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225Grundbegriffe
des Romankonzepts
âmenschliche Ast der Religionâ, den fĂŒr ihn eben der Essayismus bildet und
damit eine eigene Sparte geistiger BemĂŒhungen begrĂŒndet : âWir stehen vor
einer Neuteilung der geistigen TĂ€tigkeit. Solche die auf Erkenntnis und solche,
die auf Umbildung des Menschen gerichtet ist. Sentimentale Komplexe kÀmp-
fen um die Herrschaft. Leitgedanken der Jahrhunderte oder Generationen.
Neue Beziehungen zwischen Menschen tauchen auf.â (GW 8, 1337) Bei allen
bereits erlĂ€uterten Vorbehalten gegenĂŒber den âgelehrten und vernĂŒnftigen
Versuchenâ, auf wissenschaftlich-systematische Weise âgroĂe Essayisten aus-
zulegen, die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln
und der Bewegung der Bewegten einen âInhaltâ abzugewinnenâ (MoE 254),
erklĂ€rt Musil doch âeine rationale Verarbeitung der verschiedenen Resultateâ
fĂŒr âwertvoll. Zumindest eine systematische Ordnung. Sie kĂ€mpft bloĂ mit
Schwierigkeiten, die sich nie ganz ĂŒberwinden lassen wegen der Vieldeutig-
keit des Ausdrucks.â Statt einer solchen systematischen Erfassung empfiehlt er
deshalb eine âGeschichte der seelischen Bewegungâ (GW 8, 1337)168, die â so
lĂ€sst sich folgern â wohl am besten im Medium des Romans zu bewerkstelli-
gen ist.
Es ĂŒberrascht daher nicht, dass sich der ErzĂ€hler des Mann ohne Eigenschaf-
ten wie auch sein Protagonist Ulrich â âein âexakterâ GefĂŒhlsmenschâ (Br 1,
615) â auf programmatische Weise in bestĂ€ndiger Schwebe zwischen Wissen-
schaft und Dichtung hĂ€lt und dass Entsprechendes fĂŒr Musils âintellektuel-
lenâ Roman im Ganzen gilt.169 Die in dieser Zwischenstellung des Essayismus
begrĂŒndete fehlende âEinheitâ und âEinheitlichkeitâ sowie die daraus resultie-
rende problematische Reputation essayistischer Genres insgesamt hat Musil
besonders eindringlich in seinem WĂŒrdigungsartikel Franz Blei (1918) disku-
tiert, worin er feststellt :
Wissenschaft sucht Wahrheit und richtet sich nach ihr und Tatsachen ; Weg und
Einheit des wissenschaftlichen Werkes liegen schon in der Materie vorgezeichnet,
mit der es sich befaĂt. Bei den Werken des Geistes ist das anders. Sie haben etwas
UnabschlieĂbares und eigentlich nie ein erreichbares Ziel. Und da findet, weil sach-
liche Synthese zum Resultat mangelt, gewöhnlich eine Unterschiebung statt, um die
sozial geforderte Vorstellung, ein Werk geleistet zu haben, zu retten : die Einheit wird
168 Auch diese Entscheidung hat selbstredend ihre Kehrseite, die Musil nicht verschweigt, weil
sie schon in seiner eigenen Gegenwart zu beobachten ist und drastische AusmaĂe annimmt :
âDer Mangel von Systematik bedingt, daĂ die Menschen dichten und wie die Schweine leben.â
Veranschaulicht wird dies an den Bewegungen der âRomantikâ und des âExpressionismusâ, die
er unter die Chiffre âAneinander vorbeiredenâ stellt (GW 8, 1337).
169 Vgl. dazu Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 175.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208