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227Grundbegriffe
des Romankonzepts
trachtung erscheint die âunabgeschlossene, offene Form des groĂen Roman-
fragmentsâ im Sinne der (noch genauer zu kontextualisierenden) Musilâschen
Poetik, Epistemologie und Ethik der âPartiallösungâ (MoE 1837) indes letzt-
lich als konsequente, âwahrhaft angemessene und vollkommeneâ Umsetzung
des essayistischen ErzÀhlprogramms.174 Wenngleich diese seinerzeit wohl
provokante Deutung Albrecht Schönes, die sich in der ernst zu nehmenden
Kritik mittlerweile weitgehend durchgesetzt175 und sogar Eingang in die litera-
rische Topik gefunden hat176, aus entstehungsgeschichtlicher und editionsphi-
lologischer Sicht nicht gestĂŒtzt werden kann, ja fragwĂŒrdig anmutet177, ist sie
fĂŒr die Faktur und Rezeption des âunendlichenâ178 Musilâschen Textes doch be-
zeichnend. Die Behauptung einer nachgerade notwendigen FragmentarizitÀt
des Mann ohne Eigenschaften kann sich zudem auf eine angebliche Selbstaus-
sage Musils stĂŒtzen, die Oskar Maurus Fontana kolportiert hat : âAm liebsten
wĂ€re mirâ, âich wĂŒrde am Ende einer Seite mitten in einem Satz mit einem
Komma aufhören.â179 Welche Triftigkeit man dieser ErklĂ€rung aus zweiter
Hand auch immer zubilligen mag â sie entspricht jedenfalls einer frĂŒhen Notiz
Musils180 und markiert ein Charakteristikum des essayistischen Romans, der
die Imperative menschlicher âLebens- und DenkbedĂŒrfnisseâ vor jene klassi-
scher Vollendung stellt. In diese Richtung zielt auch Musils Laudatio Zu Kerrs
60. Geburtstag (1927), der zufolge âes die nie zu schlieĂende Quelle eines Ge-
174 Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil, S. 33 ; Àhnlich Kremer : Parallelaktion,
S. 28 f.
175 Vgl. etwa BĂŒrger : Literarische Form als Denkform, S. 436 : âDas [âŠ] UnabschlieĂbare des
Denkprozesses, dem die philosophische Abhandlung sich sperrt, findet im Romanfragment
seinen formgeforderten Ausdruck.â
176 Vgl. Canetti : Das Augenspiel, S. 140 f.: âEin Ende hĂ€tte Musil nie erreichen können, wer sich
einmal der Verfeinerung dieses PrĂ€zisionsprozesses hingegeben hat, bleibt fĂŒr immer in ihm
befangen ; wĂ€re ihm ewig zu leben gewĂ€hrt, er mĂŒĂte auch ewig daran weiterschreiben. Das
ist die wahre, die eigentliche Ewigkeit eines solchen Werkes, es liegt in ihrer Natur, daĂ sie sich
auf den Leser ĂŒbertrĂ€gt, der sich mit keinem SchluĂpunkt abfindet und immer wieder liest, was
sonst zu Ende ginge.â
177 Es gibt keinerlei Anzeichen dafĂŒr, dass Musil seinen Roman, an dem er bis zu seinem Todestag
(15. April 1942) gearbeitet hat, nicht beenden wollte ; vgl. Fanta : Die Entstehungsgeschichte
des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 11 f.
178 In Anlehnung an den Gesamttitel des Bandes, in dem Frey seinen Aufsatz Musils Essayismus
veröffentlicht hat : Der unendliche Text. Vgl. auch Kremer : Die endlose Schrift, bes. S. 443 f.;
ders.: Parallelaktion, S. 27.
179 Fontana : Erinnerungen an Robert Musil, S. 336 f.
180 Vgl. folgenden Eintrag im Arbeitsheft 3 : âPunkt und Strichpunkt sind RĂŒckschrittssymptome
â Stillstandssymptome. [âŠ] Solange man in SĂ€tzen mit Endpunkt denkt â lassen sich gewisse
Dinge nicht sagen â höchstens vage fĂŒhlen.â (Tb 1, 52 f.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208