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229Grundbegriffe
des Romankonzepts
solcherart von Anbeginn in der bereits mehrmals diagnostizierten doppelten
Frontstellung :
[D]er Essayist, der dem Gelehrten als eine Art Windbeutel gilt, der seine Wesenheit
aus dem bestreitet, was fĂŒr die gelehrte Produktion nur Abfall ist, gilt auf der andern
Seite den Dichtern meist nur als ein KompromiĂ, als eine Brechung ihres strahlenden
Wesens im Dunste der gemeinen RationalitÀt. Eines ist so beschrÀnkt wie das andere.
Die Artikulation des GefĂŒhls durch den Verstand, die Wegwendung des Verstands
von den belanglosen Wissensaufgaben zu den Aufgaben des GefĂŒhls, das ist das Ziel
des Essayisten, mit dem ferneren Ziel der menschlichen Seligkeit [âŠ]. (GW 8, 1024)
Diesen Worten lÀsst sich wiederum entnehmen, dass Musil den Essayismus
auf keinen der beiden Pole âVerstandâ oder âGefĂŒhlâ festgelegt sehen will, son-
dern sie so miteinander verknĂŒpft, dass jeder den jeweils anderen in Frage
stellt.183 Als Zwischenergebnis kann also festgehalten werden : Die essayisti-
sche Lebens-, Reflexions- und Darstellungsweise Musils orientiert sich nicht
nur an den topischen negativen Leitbildern Antisystematik und Antiideologie,
sondern auch am Ziel einer Aufhebung des traditionellen Gegensatzes zwi-
schen GefĂŒhl und Verstand.
Als zentralen Gegenstand des Essayismus bestimmt Musils ErzÀhler nicht
ohne Pathos die Frage âdes rechten Lebensâ (MoE 255). Sein Autor hatte
schon in den frĂŒhen Ăberlegungen Ăber den Essay nicht allein den Bereich der
âĂsthetikâ, sondern auch jenen der âEthikâ an das titelgebende Wort geknĂŒpft
und seine zentralen Thesen am Beispiel der objektiven âmoralischen Gesetzeâ
bzw. der bisweilen gegensĂ€tzlichen subjektiven âmoralischen KrĂ€fteâ veran-
schaulicht (GW 8, 1334 f.). Der Roman schlieĂt hier an, indem er die moral-
philosophischen Implikationen des Essayismus zu einem seiner Hauptthemen
macht. So diskutiert der ErzĂ€hler im Essayismus-Kapitel I/62 die âTatsache,
daĂ uns ein Mord als ein Verbrechen oder als eine heroische Tat erscheinen
kann und die Stunde der Liebe als die Feder, die aus dem FlĂŒgel eines Engels
oder einer Gans gefallen istâ (MoE 250) â mithin die RelativitĂ€t moralischer
Ansichten.184 Ulrich zufolge
fanden alle moralischen Ereignisse in einem Kraftfeld statt, dessen Konstellation sie
mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das Böse wie ein Atom chemische
183 Vgl. Frey : Musils Essayismus, S. 260.
184 Vgl. dazu Musils schon 1913 veröffentlichten Essay Moralische Fruchtbarkeit (GW 8, 1002 f.) oder
die oben in Kap. I.3.1 zitierten Worte aus Kapitel I/10 des Mann ohne Eigenschaften (MoE 37).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208