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230 Teil I: Grundlegung
Verbindungsmöglichkeiten enthĂ€lt. Sie waren gewissermaĂen das, was sie wurden,
und so wie das eine Wort Hart, je nachdem, ob die HĂ€rte mit Liebe, Roheit, Eifer
oder Strenge zusammenhÀngt, vier ganz verschiedene Wesenheiten bezeichnet, er-
schienen ihm alle moralischen Geschehnisse in ihrer Bedeutung als die abhÀngige
Funktion anderer. (MoE 250 f.)
In seiner von physikalischer und chemischer Terminologie geprÀgten Dar-
stellung moralischer Kategorien, die Ulrich nicht als absolute Substanzen,
sondern als relationale Funktionswerte begreift, zeigt er sich offenbar von
Machs Lehre inspiriert. Entsprechendes gilt fĂŒr die analogen Ăberlegungen
des ErzĂ€hlers zum âGeistâ als dem âgroĂe[n] Jenachdem-Macherâ (MoE
154) :
Gut und bös, oben und unten sind fĂŒr ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl
aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhÀngen, in dem
sie sich befinden. Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, daĂ Laster zu Tugenden
und Tugenden zu Lastern werden können, und hĂ€lt es im Grunde bloĂ fĂŒr eine Un-
geschicklichkeit, wenn man es noch nicht fertigbringt, in der Zeit eines Lebens aus
einem Verbrecher einen nĂŒtzlichen Menschen zu machen. (MoE 153)
Der Gedanke an Ulrichs (zumindest zeitweilig starkes) Interesse fĂŒr die Moos-
brugger-Figur liegt hier nahe, und tatsÀchlich besteht in dieser eine Projekti-
onsflĂ€che fĂŒr eigene Impulse :
Im Grunde fĂŒhlte sich Ulrich nach dieser Anschauung jeder Tugend und jeder
Schlechtigkeit fÀhig, und daà Tugenden wie Laster in einer ausgeglichenen Gesell-
schaftsordnung allgemein, wenn auch uneingestanden, als gleich lÀstig empfunden
werden, bewies ihm gerade das, was in der Natur allenthalben geschieht, daĂ jedes
KrÀftespiel mit der Zeit einem Mittelwert und Mittelzustand, einem Ausgleich und
einer Erstarrung zustrebt.[185] Die Moral im gewöhnlichen Sinn war fĂŒr Ulrich nicht
185 Mit solchen Ăberlegungen bezieht sich Musils ErzĂ€hler u. a. auch auf die Ergebnisse zeit-
genössischer Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie, insbesondere auf das âGesetz der gro-
Ăen Zahlenâ, das Timerding : Die Analyse des Zufalls, S. 35â49, diskutiert. Vgl. dazu Musils
nachgelassene Notizen : âEine Durchschnittsbeschaffenheit ist umso mehr die des Ganzen, je
mehr Proben. [âŠ] Gesetz der groĂen Zahlen : Regellose Schwankungen um einen mittleren
Wert (oder vernachlÀssigbare systematische VerÀnderungen) : Jedes Jahr : gleiche Zahl von
SelbstverstĂŒmmelungen Stellungspflichtiger. Gleicher Bruchteil von Selbstmorden. Gleiches
GeschlechtsverhÀltnis. Arten der Verbrechen. Jede Probe einer guten Mischung so gemischt
wie diese. StabilitĂ€t des wirtschaftlichen und staatlichen Lebens.â (M V/5/76) Musil verweist
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208