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231Grundbegriffe
des Romankonzepts
mehr als die Altersform eines KrÀftesystems, das nicht ohne Verlust an ethischer Kraft
mit ihr verwechselt werden darf. (MoE 251)
Die groĂe NĂ€he solcher ĂuĂerungen zu Musils eigenen Ansichten braucht
nicht eigens betont zu werden186, wenngleich sie im Roman an bestimmten
Stellen selbst einer gewissen Relativierung unterliegen.
Es mag sein, daĂ sich auch in diesen Anschauungen eine gewisse Lebensunsicher-
heit ausdrĂŒckte ; allein Unsicherheit ist mitunter nichts als das UngenĂŒgen an den
gewöhnlichen Sicherungen, und im ĂŒbrigen darf wohl daran erinnert werden, daĂ
selbst eine so erfahrene Person, wie es die Menschheit ist, scheinbar nach ganz Àhn-
lichen GrundsÀtzen handelt. Sie widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat, und
setzt anderes an seine Stelle, auch ihr verwandeln sich im Lauf der Zeit Verbrechen
in Tugenden und umgekehrt, sie baut groĂe geistige ZusammenhĂ€nge aller Gescheh-
nisse auf und lĂ€Ăt sie nach einigen Menschenaltern wieder einstĂŒrzen ; nur geschieht
das nacheinander, statt in einem einheitlichen LebensgefĂŒhl, und die Kette ihrer Ver-
suche lĂ€Ăt keine Steigerung erkennen, wĂ€hrend ein bewuĂter menschlicher Essay-
ismus ungefĂ€hr die Aufgabe vorfĂ€nde, diesen fahrlĂ€ssigen BewuĂtseinszustand der
Welt in einen Willen zu verwandeln. (MoE 251)
Mit den zuletzt zitierten Worten, die wiederum auf die innere Wandelbar-
keit und konstitutive VorlÀufigkeit sowie Ironie essayistischer Reflexion ab-
in der zitierten Passage wiederholt auf seine Timerding-Exzerpte in den Arbeitsheften (so auf
H 10/33 ; Tb 1, 464 f., u. H 10/35 ; Tb 1, 465 f.). Er folgert daraus : âDas Gesetz/Schicksal der
Gattung ist als irgendein Mittelwert oder/und durch eine HĂ€ufigkeitsfunktion zu bestimmen.â
(M V/5/76)
186 Vgl. den Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) : âDie heute noch herrschende Ethik
ist ihrer Methode nach eine statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem
Weg von der Natur zum Geiste gleichsam aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treib-
haus voll unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr
komische Technik der EinschrÀnkung und des Widerrufs, deren Kompliziertheit allein schon
unsre Moral zum Untergang reif erscheinen lĂ€Ăt.â (GW 8, 1027 f.) Ăhnlich argumentiert Musil
in Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) : âGutes und Böses schlagen bei ihm [dem
Menschen, N. C. W.] gleich weit aus, wie der Zeiger einer empfindlichen Waage. Es wird vo-
raussichtlich damit noch Àrger werden, und die Menschen werden den heute um sie gelegten,
ohnedies halb ohnmÀchtigen ethischen Klammern immer mehr entgleiten. Denn man darf
sich den Menschen wohl ursprĂŒnglich als ein Geschöpf denken, das ebenso gern gut wie bös
ist, nĂ€mlich sozial wie egoistisch (beiseite gelassen, ein wie groĂer Einschlag von Egoismus
noch zum Sozialen gehört) [âŠ]. Gut erscheint nicht als Konstante, sondern als variable Funk-
tion.â (GW 8, 1072 f.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208