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233Grundbegriffe
des Romankonzepts
die des âanderen Zustandsâ (MoE 1887 ; M II/2/5), die der âHöflichkeitâ (M
II/7/66, 70, 74 f., 79 u. 87) bzw. des âmotivierten Lebensâ (MoE 1887 ; M
II/2/5 u. M II/7/65) und die des âErfahrungszeitaltersâ (M II/7/67) bzw. der
âinduktiven Gesinnungâ (MoE 1887 ; M I/3/13, M II/1/165, M II/2/13, M
II/7/67 u. M II/8/255 f.).190 Doch bleibt dabei zu bedenken :
Nicht die materialen Utopien, die der Roman zu experimentellen Zwecken ausmalt,
sind entscheidend, sondern die âLiteratur als Utopieâ, das heiĂt als die FĂ€higkeit, die
Wirklichkeit jener geistigen Operation zu unterwerfen, die der Schriftsteller am Ein-
zelfall auf exemplarische Weise durch- und vorfĂŒhrt. Diese Operation verwandelt alle
groĂen Ăberzeugungen, Philosopheme und Glaubenssysteme in Hypothesen, die
ĂŒberprĂŒft und gegebenenfalls aufgegeben oder revidiert werden mĂŒssen.191
Die explizit benannten Utopien lösen sich im Roman denn auch nicht gegen-
seitig ab192 ; sie ergÀnzen einander vielmehr, und gerade in ihrem Zusammen-
spiel unter dem Leitbild des Essayismus haben sie jeweils Auswirkungen auf
die âFrage des rechten Lebensâ, wie das Beispiel des âexakten Lebensâ (MoE
244) zeigt :
Die festen VerhÀltnisse des Inneren, welche durch eine Moral gewÀhrleistet werden,
haben fĂŒr einen Mann wenig Wert, dessen Phantasie auf VerĂ€nderungen gerichtet ist ;
und vollends wenn die Forderung genauester und gröĂter ErfĂŒllung vom intellektu-
ellen Gebiet auf das der Leidenschaften ĂŒbertragen wird, zeigt sich, wie angedeutet
worden, das verwunderliche Ergebnis, daĂ die Leidenschaften verschwinden und an
ihrer Stelle etwas UrfeuerĂ€hnliches von GĂŒte zum Vorschein kommt. (MoE 247)
Was mit den zuletzt zitierten enigmatischen Worten gemeint ist, lÀsst sich
wohl selbst nur durch eine essayistische AnnÀherung eruieren. ZunÀchst ein-
mal kann Musils oben angefĂŒhrte, relationale Vorstellung vom âmoralischen
Kraftfeldâ auf die unterschiedlichsten menschlichen Verhaltensweisen glei-
chermaĂen bezogen werden : âDer Verbrecher, der in das moralische Kraft-
feld seiner Tat geraten ist, bewegt sich nur noch wie ein Schwimmer, der mit
einem reiĂenden Strom mitmuĂ, und jede Mutter, deren Kind einmal hinein-
Welt, wĂ€hrend Musil ihn fĂŒr eine VerflĂŒssigung der Paradigmen und Begriffe nutzbar machen
möchte, indem er just die körperliche Verfassung thematisiert, welche die Bedingung fĂŒr die
Befreiung eines solchen âĂhnlichkeitssinnsâ aus der Doxa der Wissenschaft wĂ€re.
190 Vgl. dazu insgesamt Wiegmann : Musils Utopiebegriff, bes. S. 311â315.
191 Wefelmeyer : Kultur und Literatur, S. 196.
192 Vgl. dagegen Wiegmann : Musils Utopiebegriff, S. 315.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208