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240 Teil I: Grundlegung
er fĂŒhlte, daĂ in einer anderen Weise seine Entscheidung ĂŒbereinfallen konnte mit
seinem GlĂŒck. Er könnte glĂŒcklich sein, weil er nicht tötet, oder glĂŒcklich sein, weil
er tötet, aber er könnte niemals der gleichgĂŒltige Eintreiber einer an ihn gestellten
Forderung sein. (MoE 255)
Aus diesen Worten spricht das (zeittypische) affektive BedĂŒrfnis, aus dem
âseiner selbst gewissen Augenblickâ (und nicht aufgrund eines deduktiv her-
geleiteten moralischen Satzes) zu handeln, etwas â wie Hofmannsthal so oft
fordert â âaus dem ganzen Wesen herausâ zu tun oder zu lassen205, mithin die
brĂŒchig gewordene menschliche Konstitution durch einen voluntaristischen
Akt gewissermaĂen zu kitten. Der skeptisch-relativierende Typ des Essay-
isten â so lĂ€sst sich ein weiteres, noch höchst vorlĂ€ufiges, aber durchaus be-
merkenswertes Zwischenergebnis formulieren â ist Musils ErzĂ€hler zufolge
als Mensch zu begreifen, dessen Handeln jeweils in einer âeinmaligenâ und
deshalb âunabĂ€nderlichenâ Denkbewegung grĂŒnden soll und der auf dieser Ba-
sis, ja nur auf ihr âmit ganzer Seeleâ handeln kann. Indem Ulrich diese eigen-
willige Gedankenfigur verfolgt, befindet er sich im Ăbrigen selbst schon im
Bereich dessen, was er reflexiv umkreist :
Das, was er in diesem Augenblick empfand, war kein Gebot, es war ein Gebiet, das
er betreten hatte. Er begriff, daĂ alles darin schon entschieden sei und den Sinn be-
sÀnftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und
auch kein FĂŒhlen in der gewöhnlichen, wie in StĂŒcke gebrochenen Weise ; es war ein
âganz Begreifenâ und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft
fern herĂŒbertrĂ€gt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernĂŒnftig noch
widervernĂŒnftig vor, sondern ergriff ihn, als wĂ€re ihm eine leise selige Ăbertreibung
in die Brust gefallen. (MoE 255)
Was der ErzÀhler hier in immer neuen AnlÀufen und mit gewaltigem meta-
phorischen Aufwand einzuholen versucht, ist keineswegs jene krude und irra-
tionale Metaphysik der Intuition, die er und sein Autor an zahlreichen Stellen
205 Vgl. etwa Hofmannsthal : Die Briefe des ZurĂŒckgekehrten, 1. Brief, S. 545, wo die von Joseph
Addison und Richard Steele geprĂ€gte Maxime âThe whole man must move at onceâ vom âepi-
stolarischen Ichâ als âeine groĂe Wahrheit, ein tiefsinniger Aphorismus, eine ganze Lebens-
weisheitâ bezeichnet wird. Die 1907 zitierte Formel begegnet noch 1927 in Hofmannsthal : Das
Schrifttum als geistiger Raum der Nation, S. 38. Vgl. dagegen folgende desillusionistische Be-
merkung Ulrichs zu Agathe : â[M]an erblickt sich heute nicht in ganzer Figur, und man bewegt
sich nie in ganzer Figur : das ist es eben !â (MoE 744)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208