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241Grundbegriffe
des Romankonzepts
harsch attackieren oder der LĂ€cherlichkeit preisgeben206, sondern bezieht sich
prÀzise auf die Beschaffenheit jenes distinkten Erkenntnisbereichs, der in der
Skizze der Erkenntnis des Dichters als âdas Gebiet der ReaktivitĂ€t des Indivi-
duums gegen die Welt und die anderen Individuenâ umrissen wird bzw. als
âdas Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und Ă€sthetischen
Beziehungen, das Gebiet der Ideeâ (GW 8, 1028). Dort gilt eine andere, ja
geradezu kontrĂ€re Form des Erkennens : WĂ€hrend ein âBegriff, ein Urteilâ auf
dem âratioĂŻden Gebietâ der Wissenschaft âim hohen Grade unabhĂ€ngig von
der Art ihrer Anwendung und von der Personâ zu sein beanspruchen, ist âeine
Ideeâ hier âin ihrer Bedeutung in hohem Grade von beiden abhĂ€ngig, sie hat
immer eine nur occasionell bestimmte Bedeutung und erlischt, wenn man sie
aus ihren UmstĂ€nden loslöstâ (GW 8, 1028).
Das Projekt, das Musil nicht allein in der Skizze der Erkenntnis des Dich-
ters im Vorgriff auf die Reflexionen seines RomanerzÀhlers und seines Prota-
gonisten Ulrich annĂ€herungsweise entwickelt, impliziert, âdaĂ â zumal im
Gebiet des im weitesten Sinn âEssayistischenâ ! â auch mehrere Meinungen
zugleich recht haben mĂŒssenâ207, es entspricht in seiner UnĂŒbersetzbarkeit âin
begriffliches Denkenâ, seinem fehlenden Anspruch auf âAllgemeingĂŒltigkeitâ
sowie dem Zulassen von âWidersprĂŒche[n]â (vgl. GW 8, 1450) etwa dem, was
Bourdieu in Abgrenzung von rein diskursiv-rationaler Erkenntnisweise, aber
dennoch rational durchaus nachvollziehbar als spezifische Form âkörperlicher
Erkenntnisâ beschrieben hat :
Die Welt ist erfaĂbar, unmittelbar sinnerfĂŒllt, weil der Körper, der dank seiner Sinne
und seines Gehirns fĂ€hig ist, auch auĂerhalb seiner selbst in der Welt gegenwĂ€rtig
zu sein, von ihr EindrĂŒcke zu empfangen und sich durch sie dauerhaft verĂ€ndern zu
lassen, ĂŒber lange Zeit hinweg (seit seinem Ursprung) ihrem regelmĂ€Ăigen Einwir-
ken ausgesetzt war. Infolgedessen hat er ein mit diesen RegelmĂ€Ăigkeiten harmonie-
rendes System von Dispositionen erworben und ist geneigt und fÀhig, sie in Verhal-
tensweisen praktisch vorwegzunehmen, die eine ein praktisches Erfassen der Welt
206 Vgl. etwa MoE 112, 283, 470, 765 u. 883 sowie den Spengler-Essay Geist und Erfahrung (1921), wo
Musil zur âIntuitionâ schreibt : âIch beantrage, alle deutschen Schriftsteller möchten sich durch
zwei Jahre dieses Wortes enthalten. Denn heute steht es so damit, daĂ jeder, der etwas behaupten
will, was er weder beweisen kann, noch zuendegedacht hat, sich auf die Intuition beruft.â
207 So Musil im Brief an Karl Baedeker, 4.12.1935 ; weiter heiĂt es da : â[D]ieses Rechthaben, in sei-
nem eigentĂŒmlichen VerhĂ€ltnis zur Wahrheit und SubjektivitĂ€t, ist also ein Hauptproblem des
Essays, es ist aber zugleich auch eines des persönlichen Werdens, und ich halte es in letzterem
Zusammenhang nicht fĂŒr gut, es nur im zugedeckten Treibhaus zu halten, sondern bin fĂŒr ein
zeitweiliges DurchlĂŒften.â (Br 1, 683) Vgl. Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 34.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208