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245Grundbegriffe
des Romankonzepts
abgelenkt wird und schlieĂlich an eine Stelle gerĂ€t, die er weder gekannt hat, noch
erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen.
(MoE 361 ; vgl. GW 8, 1374)
In Frage steht nicht allein die bereits wiederholt konstatierte Kontingenz-
erfahrung des modernen Menschen, sondern darĂŒber hinaus das durchaus
gesellschaftskritische Ansinnen, dem passiven Treiben(lassen) und bloĂen
âFortwurstelnâ durch eine charakteristische Kombination von erhöhter Kon-
tingenztoleranz und dezidiert essayistischem âWillenâ aktiv zu begegnen.217
Wie bereits angedeutet wurde, befindet sich das essayistische WeltverhÀlt-
nis in einer Analogie zum schöpferischen Aspekt von Literatur und Dichtung,
wodurch Musils âMöglichkeitssinnâ eine selbstreflexive Funktion erhĂ€lt.218
Dementsprechend reklamiert Ulrich fĂŒr sich eine âganz und gar offene, mo-
ralisch im GroĂen experimentierende und dichtende Gesinnungâ (MoE 365).
Der am Eingang dieses Kapitels zitierte Vorwort-Entwurf IV zum NachlaĂ zu
Lebzeiten hĂ€lt sinngemÀà und programmatisch fest : âZur Dichtung gehört we-
sentlich das, was man nicht weiĂ ; die Ehrfurcht davor.â Mehr noch : âEine
fertige Weltanschauung vertrĂ€gt keine Dichtung. Sie muĂ fĂŒr sie ein KPQ
[Kriegspressequartier, N. C. W.] errichten. Eine Speichelleckerabteilung.â
(GW 7, 971) Musil, der gegen Ende des Ersten Weltkriegs selbst im öster-
reichischen Kriegspressequartier tĂ€tig war219, weiĂ, wovon er spricht. Um
einseitigen Auslegungen seiner Worte jedoch von vornherein den Boden zu
entziehen, prĂ€zisiert er : âDas gilt fĂŒr alle Arten vermeintlich fertiger Welt-
anschauungen.â DemgegenĂŒber erscheint die von ihm in normativer Weise
antiideologisch gefasste Dichtung als âlebendiges Ethosâ (GW 7, 971). Kon-
densiert findet sich dieses im essayistischen âProgramm, Ideengeschichte statt
Weltgeschichte zu lebenâ, das der wirklichkeitskritische Romanprotagonist
Ulrich seinem zunehmend wirklichkeitsbejahenden Jugendfreund Walter ent-
gegenhÀlt :
Das jetzt geltende System sei das der Wirklichkeit und gleiche einem schlechten
TheaterstĂŒck. Man sage nicht umsonst Welttheater, denn es erstehen immer die glei-
chen Rollen, Verwicklungen und Fabeln im Leben. [âŠ] Vollends die erfolgreichen
217 In Anlehnung an die oben zitierte Musilâsche Bestimmung, dass âein bewuĂter menschlicher
Essayismus ungefĂ€hr die Aufgabe vorfĂ€nde, diesen fahrlĂ€ssigen BewuĂtseinszustand der Welt
in einen Willen zu verwandelnâ (MoE 251).
218 Vgl. Kremer : Parallelaktion, S. 26â29 ; ders : Die endlose Schrift, S. 442.
219 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 575â592.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208