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246 Teil I: Grundlegung
politischen Gestalter der Wirklichkeit haben, von den ganz groĂen Ausnahmen ab-
gesehen, viel mit den Schreibern von KassenstĂŒcken gemein ; die lebhaften VorgĂ€nge,
die sie erzeugen, langweilen durch ihren Mangel an Geist und Neuheit, bringen uns
aber gerade dadurch in jenen widerstandslosen schlÀfrigen Zustand, worin wir uns
jede VerÀnderung gefallen lassen. So betrachtet, entsteht Geschichte aus der ideellen
Routine und aus dem ideell GleichgĂŒltigen, und die Wirklichkeit entsteht vornehm-
lich daraus, daĂ nichts fĂŒr die Ideen geschieht. Man könne es kurz so zusammenfas-
sen, [âŠ] daĂ es uns zu wenig darauf ankĂ€me, was geschehe, und zuviel darauf, wem,
wo und wann es geschehe, so daĂ uns nicht der Geist der Geschehnisse, sondern ihre
Fabel, nicht die ErschlieĂung neuen Lebensgehalts, sondern die Verteilung des schon
vorhandenen wichtig seien, genau so, wie es wirklich dem Unterschied von guten
und bloĂ erfolgreichen StĂŒcken entspreche. (MoE 364)
Mit diesen Worten, die auch ein literaturpolitisches PlÀdoyer Musils in eige-
ner Sache enthalten, entwickelt Ulrich per negationem ein ganzes Lebenspro-
gramm im Sinne der Poiesis, ein âLeben nach der Art der Kunstâ, wie Walter
abschĂ€tzig formuliert (MoE 367). Der âMöglichkeitssinnâ gerĂ€t solcherart zum
Reflexionsmedium von fiktionaler Literatur ĂŒberhaupt. Es entbehrt deshalb
nicht gedanklicher Konsequenz, wenn Ulrich seine Kusine auffordert : âLassen
Sie uns etwa an groĂe Schriftsteller denken. Man kann sein Leben nach ihnen
richten, aber man kann nicht Leben aus ihnen keltern. Sie haben das, was sie
bewegte, so fest gestaltet, daà es bis in die ZwischenrÀume der Zeilen wie
gepreĂtes Metall dasteht.â (MoE 574) Diese Forderung des bei aller forcierten
Reflektiertheit stets auf Konkretion bedachten Ulrich ist nicht so abstrakt wie
sie klingt, was auch fĂŒr seinen scheinbar absurden Vorschlag gilt : âVersuchen
wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wÀren,
die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen. Lassen wir also jedenfalls das
ganze FettgerĂŒst fort, das die Wirklichkeit rund macht.â (MoE 573) Wenn der
Mann ohne Eigenschaften Diotima vorschlĂ€gt, das âLebenâ nach den âbeweg-
tenâ und bewegenden Vorbildern der Schriftsteller zu ârichtenâ, âeinanderâ
wie auf einer Buchseite âzu liebenâ, dann spielt er auf einen ganz bestimm-
ten Hintergrund an, den etwa jener oben bereits zitierte Abschnitt aus den
Ăberlegungen Ăber den Essay transparent zu machen vermag, dem zufolge
ein âBuchmensch aus mehreren Menschen bestehtâ, âgut und verwerflich
zugleich istâ und âkeinen Charakter hat, inkonsequent ist, nicht kausal han-
deltâ (GW 8, 1335). Musil schlieĂt aus dieser spezifischen Beschaffenheit des
âBuchmenschenâ, âdaĂ man die moralischen KrĂ€fte, die ihn bewegen, in kei-
ner Weise ordnen und einordnen kannâ, ja dass âdie moralischen Gesetze der
menschlichen Gesellschaftâ hier nicht gelten, und gelangt zu folgendem Fazit :
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208