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253Grundbegriffe
des Romankonzepts
357 f.) Zur Veranschaulichung dieser Vorstellung eines durch die unvollstÀn-
dige Schöpfung formulierten Pensums fĂŒr den Menschen bedient sich Ulrich
selbst einer Analogie, nĂ€mlich jener zu den âmathematischen Aufgaben, die
keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren
Kombination man sich der allgemeinen Lösung nĂ€hert. Er hĂ€tte hinzufĂŒgen
können, daĂ er die Aufgabe des menschlichen Lebens fĂŒr eine solche ansah.â
(MoE 358) Die durch die Mathematik inspirierte Vorstellung Ulrichs von den
âEinzellösungenâ, deren âKombinationâ eine âallgemeine Lösungâ zwar nicht
realisieren kann, sich ihr aber doch ânĂ€hertâ, hĂ€ngt eng mit seiner Skepsis ge-
genĂŒber synthetischen begrifflichen Abstraktionen wie âZeitalterâ zusammen,
die aufgrund ihrer UnschÀrfe und Allgemeinheit relativ inhaltsleer geworden
sind :
Was man ein Zeitalter nennt â ohne zu wissen, ob man Jahrhunderte, Jahrtausende
oder die Spanne zwischen Schule und Enkelkind darunter verstehen soll â, dieser
breite, ungeregelte FluĂ von ZustĂ€nden wĂŒrde dann ungefĂ€hr ebensoviel bedeuten
wie ein planloses Nacheinander von ungenĂŒgenden und einzeln genommen falschen
Lösungsversuchen, aus denen, erst wenn die Menschheit sie zusammenzufassen ver-
stĂŒnde, die richtige und totale Lösung hervorgehen könnte. (MoE 358)
Die hier entworfene Analogie ist insofern bezeichnend, als sie die seinerzeit
populĂ€re Erwartung einer ârichtigen und totalen Lösungâ fĂŒr die Probleme der
Menschheit in der Moderne indirekt mit der âformelhaften VerkĂŒrzungâ durch
den eingeschliffenen Begriff assoziiert. Das dafĂŒr in Anspruch genommene
Bild eines âplanlosen Nacheinanders von ungenĂŒgenden und einzeln genom-
men falschen Lösungsversuchenâ entspricht wiederum dem im Essayismus-
Kapitel I/62 inkriminierten âfahrlĂ€ssigen BewuĂtseinszustand der Weltâ (MoE
251), dessen bloà passives GewÀhrenlassen vom essayistischen Weltzugang
ĂŒberwunden und durch ein âeinheitliches LebensgefĂŒhlâ der Wandelbarkeit
und VerĂ€nderlichkeit ersetzt werden soll.238 Allerdings âschĂ€mtâ Ulrich sich
selbst âein wenigâ angesichts âsolcher Gedankenâ, ja kommt sich mit ihnen
âwie ein spielender Knabe vor ; sogar wie ein nicht ganz anstĂ€ndig spielender
Knabeâ (MoE 358). Warum hier dieser auffallende Vorbehalt ? Der ErzĂ€hler
gibt dafĂŒr eine bezeichnende BegrĂŒndung :
[E]in Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr an-
stÀndige heimliche BeschÀftigung ; namentlich aber solche Gedanken, die ungeheure
238 Vgl. Frey : Musils Essayismus, S. 239 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208