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254 Teil I: Grundlegung
Stelzschritte machen und die Erfahrung nur mit winzigen Sohlen berĂŒhren, sind
unordentlicher Entstehung verdĂ€chtig. FrĂŒher hat man ja wohl von Gedankenflug
gesprochen, und zur Zeit Schillers wÀre ein Mann mit solchen hochgemuten Fragen
im Busen sehr angesehen gewesen ; heute dagegen hat man das GefĂŒhl, daĂ mit so
einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufÀllig sein Be-
ruf ist und seine Einkommensquelle. [âŠ] Man hat fĂŒr hochfliegende Gedanken eine
Art GeflĂŒgelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt,
und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unĂŒbersichtlicher, und das ist ganz
recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen,
daĂ er sich nicht persönlich um sie kĂŒmmern kann. (MoE 358 f.)
In dieser Passage erscheint die oben bereits ausfĂŒhrlich diskutierte Skepsis des
Musilâschen ErzĂ€hlers gegenĂŒber einer rein logisch-begrifflichen Reflexion
variiert, indem die erfahrungsferne philosophische Spekulation mit Blick auf
die Standards ausdifferenzierter moderner Wissenschaft einer âunordentlichen
Entstehungâ verdĂ€chtigt wird. Die dabei angedeuteten prekĂ€ren Implikatio-
nen betreffen freilich nicht allein die fehlende empirische Grundlage solcher
Ăberlegungen, sondern zudem die möglichen politischen Folgen einer (zwar
prinzipiell fĂŒr zeitgemÀà erachteten) gesellschaftlichen Ausdifferenzierung
und Spezialisierung, die in die Ă€uĂerste Konsequenz getrieben wird (vgl. GW
9, 1625) :
Ulrich[,] in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde ent-
schlossen, nichts gegen eine solche Teilung der TĂ€tigkeiten einzuwenden. Aber er ge-
stattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war,
und augenblicklich malte er sich aus, daĂ das auf den Weg zum Bienenstaat fĂŒhren
werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem
Geist gewidmetes Leben fĂŒhren, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine
solche Menschheit ist denkbar ; die Gesamtleistung möchte vielleicht sogar gesteigert
werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber
das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewĂ€hrt sich gar nicht mehr ; so daĂ
das Humane fast schon der reinste Schwindel ist. (MoE 359)
Trotz aller Einsicht in die prinzipielle UnumgÀnglichkeit der sozialen Diffe-
renzierungs- und Spezialisierungsbewegung der Moderne239, die sich auch auf
die Wissenschaft erstreckt und insbesondere den grundlegenden Anspruch
der Philosophie als Königsdisziplin in Frage stellt, beharrt Ulrich auf dem
239 Vgl. dagegen Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 284.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208