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255Grundbegriffe
des Romankonzepts
Recht zu eigener Reflexion. Er gelangt angesichts dessen zu einem kritischen
Bewusstsein von der Kehrseite der skizzierten Entwicklung : Das hier gezeich-
nete Bild vom inhumanen âBienenstaatâ der Zukunft scheint nĂ€mlich bei aller
FunktionalitÀt kaum dazu angetan, positive Assoziationen auszulösen. Musils
Protagonist gibt im Sinne der Psychotechnik zu bedenken : âEs wĂŒrde fĂŒr den
Erfolg vielleicht darauf ankommen, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu
treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige
Synthese entsteht. Denn ohne Geist â ? Ulrich wollte sagen, daĂ es ihn nicht
freuen wĂŒrde. Aber das war natĂŒrlich ein Vorurteil. Man weiĂ ja nicht, worauf
es ankommt.â (MoE 359) Die ausklingenden Worte stehen vorderhand fĂŒr
Ulrichs Unbehagen hinsichtlich der Möglichkeit einer zukĂŒnftigen Welt âohne
Geistâ â ein rein subjektives Unbehagen, das vom essayistischen ErzĂ€hler kei-
neswegs in eine objektive Gewissheit ĂŒberfĂŒhrt wird ; viel grundsĂ€tzlicher in-
des zeugen sie wiederum von der jeglicher Vorstellung einer ideologischen
und politischen âTotallösungâ per se innewohnenden Problematik, deren Auf-
deckung umso dringlicher schien, als âTotallösungenâ der genannten Art da-
mals â wie angedeutet â von zahlreichen Zeitgenossen angestrebt und ersehnt
worden sind.
Auf einem der nachgelassenen StudienblÀtter zum Mann ohne Eigenschaf-
ten formuliert Musil noch resoluter und diesmal ausdrĂŒcklich in eigener Sa-
che : âMeine Auffassung oder Aufgabensetzung der Dichtung : Partiallösung,
Beitrag zur Lösung[240], Untersuchung oder dergleichen. Ich fĂŒhle mich einer
eindeutigen Antwort enthoben. Ich habe ja auch die Moral der EinzelfÀlle
postuliert.â (MoE 1837, nach M II/8/17) Zwar ist er sich bewusst, dass nach
dem Ersten Weltkrieg eine neue historische âSituationâ entstanden sei :
Der ganze Mensch ist in Unsicherheit geschleudert. Erörterungen nutzen ihm nichts,
er braucht die ihm verlorengegangene Festigkeit. Darum das Verlangen nach Ent-
scheidung, nach Ja und Nein. In diesem Sinn ist ein so substanzloser Mensch wie
Brecht durch die Form seines Verhaltens vorbildlich. Er ergreift die Leute, weil er
ihnen ihr eigenes Erlebnis vormacht. Das muĂ man voll begreifen. (MoE 1837, nach
M II/8/17)
Musil zieht daraus fĂŒr sein Romanprojekt aber nur die vage Konsequenz, âdas
Lehrmoment im Buch zu verstĂ€rkenâ. Mit anderen Worten : âEine praktische
240 Die Formulierung entspricht ĂŒbrigens ziemlich genau dem eingangs zitierten Passus aus dem
fallen gelassenen Vorwort-Entwurf IV zum NachlaĂ zu Lebzeiten (GW 7, 970), was ihre Triftig-
keit zur Bestimmung von Musils poetischer Position noch erhöht.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208