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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 265
ten Zeitpunkt oder im Durchschnitt eines Zeitraumesâ, âIsotherenâ hinge-
gen âVerbindungslinien zwischen Orten gleicher mittlerer SommerwĂ€rmeâ.12
Wenn vom âordnungsgemĂ€Ăen VerhĂ€ltnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur
Temperatur des kÀltesten wie des wÀrmsten Monats und zur aperiodischen
monatlichen Temperaturschwankungâ die Rede ist, dann setzen solche Be-
obachtungen ausgedehnte statistische Erhebungen voraus. Ebenfalls um na-
turwissenschaftlich beglaubigte RegelmĂ€Ăigkeiten geht es im folgenden Satz :
âDer Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mon-
des, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen
entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen JahrbĂŒchern.â Was Musil
hier nun den ĂŒberindividuellen âGesetzen der Erscheinungenâ gegenĂŒber-
stellt, ist das individuelle âErlebnisâ, die Voraussetzung fĂŒr die konventionelle
ErzÀhlbarkeit von Welt, wie eine bereits auszugsweise zitierte Passage aus dem
um 1926 entstandenen Essayfragment Charakterologie und Dichtung erlÀutert :
âNoch so umfassende Gleichungen elektrodynamischer Wirbelbewegungen
ersetzen nicht die Beschreibung eines Gewitters. Ich meine, man soll das, was
ĂŒbrig bleibt, das Erlebnis nennen.â Demnach
ist das Individuum etwas absolut Einmaliges so wie nur irgendein in Serien erzeugter
Schraubenbolzen. [âŠ] So wie es einmalig ist, daĂ ein Gewitter mich hindert, recht-
zeitig irgendwohin zu kommen. Wenn das auch hundertfÀltig geschieht, das Ty-
pische eines Ereignisses hindert das Einmalige nicht ; beides ist an ihm. Wir abstra-
hieren aus Millionen von Ereignissen hunderte von Gesetzen : umgekehrt geht das so
wenig wie Schachspielen durch Permutation oder Wissenschaft durch Permutation
des Alphabets. [âŠ] Wir können Tatsachen berechnen nach dem Schema : Wenn â
so, aber wir können die Wennâs nicht erschöpfen. (GW 8, 1404, nach M VI/2/21)
An dieser Stelle scheint Musils Roman serialisierende Wissenschaft und indi-
vidualisierende Poesie als durchaus gleichberechtigte ZugÀnge zur modernen
Welt zu prÀsentieren.13 Bei genauerer Betrachtung erweisen sich aber beide
Diskurse als mehrfach ironisch gebrochen.
Deutlich wird dies zunÀchst am Beispiel des im Romantext inszenierten
Wissenschaftsjargons, der sich als veritable Persiflage entpuppt : TatsÀchlich
12 Arntzen : Musil-Kommentar, S. 139.
13 Den hier manifesten ânarrativen Indeterminismusâ im Sinne eines âsystematische[n]
Offenhalten[s] von alternativen Möglichkeiten des ErzĂ€hlensâ analysiert Moser : Zur Erfor-
schung des modernen Menschen, S. 116â118, Zit. S. 117 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208