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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld268
[W]enn ein Mensch durch Gassen streicht und hier vom Schatten, dort von einer
Gruppe, weiterhin von einer seltsamen Verschneidung der Fronten angezogen wird,
wenn ein andrer Mensch âzufĂ€lligâ seinen Weg kreuzt und ihm etwas mitteilt, was
ihn sich fĂŒr einen bestimmten Weg entscheiden lĂ€Ăt â und er findet sich schlieĂlich
an einem Punkt, den er weder kennt, noch erreichen wollte, so geschieht auch jeder
Schritt dieses Wegs mit Notwendigkeit, aber die Aufeinanderfolge dieser Einzelnot-
wendigkeiten ist ohne Zusammenhang. Daà ich plötzlich da stehe, wo ich bin, ist
eine Tatsache, ein Ergebnis und wenn man es notwendig nennt, weil schlieĂlich alles
seine Ursachen hat, so trÀgt dies den Charakter einer Verwahrung im Namen der
KausalitĂ€t, aber sie ist recht unnĂŒtz, weil wir sie niemals einlösen werden. (GW 8,
1374 f., nach VII/11/38 f.)
Romanintern manifestiert sich Musils Ablehnung der KausalitĂ€t als ĂŒberge-
ordnetes narratives Strukturprinzip, seine Verabschiedung der Kategorie des
âNotwendigenâ in historischen ZusammenhĂ€ngen, ja seine Ablehnung jeder
Form geschichtsphilosophischer Teleologie und deren Substitution durch das
oben24 diskutierte âPrinzip des unzureichenden Grundesâ (MoE 133) bereits
in der bezeichnenden KapitelĂŒberschrift âWoraus bemerkenswerter Weise
nichts hervorgehtâ (MoE 9). In diesem Sinn ist auch der ebenfalls schon zi-
tierte Satz des Autors ĂŒber seinen Romanhelden aus dem Fontana-Interview
(1926) zu verstehen : âDer junge Mensch [Anders/Ulrich, N. C. W.] kommt
darauf, daĂ er zufĂ€llig istâ (GW 7, 941). Die in der Formulierung anklingende
Einsicht, dass man in der Moderne ânicht mehr mit naivem Gewissen Ein-
zelschicksale so wichtig nehmen kann wie ehedemâ, ist freilich durch die
scheinbar gegenlĂ€ufige Tendenz zu komplettieren, âdaĂ man hinter den Ein-
zelschicksalen etwas Typisches vermutetâ (GW 8, 1409). Musils âTheorem der
menschlichen Gestaltlosigkeitâ besagt ja : â[D]er Mensch wird erst durch den
Ausdruck, und dieser formt sich in den Formen der Gesellschaft.â (GW 8,
1374) Die ErzĂ€hlkunst, die selbst im âZeitalter des Wissensâ (GW 8, 1409)
auf die Darstellung von Einzelschicksalen nicht gut verzichten kann, findet in
dieser Spannung ihre auch epistemologisch begrĂŒndete Legitimation.
Der ErzÀhler wechselt dementsprechend mit dem letzten Satz des ersten
Absatzes seinen Ton, der nun fĂŒr ein ganz anderes ErzĂ€hlverhalten einsteht,
nĂ€mlich fĂŒr das konventionelle des realistischen Romans.25 Kennzeichnend
24 Vgl. Kap. I.3.2 sowie schon den 2. Teil der Einleitung in vorliegende Arbeit.
25 Vgl. Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein TintenfaĂ, S. 162. Precht : Die gleitende Logik der Seele,
S. 42 f., deutet trotz seiner Behauptung einer weitgehenden âSelbstreferentialitĂ€t des Textesâ
die âKonfrontation negierender und konservierender Schreibstrategienâ im Eingangskapitel als
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208