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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld280
entspricht, wÀre im Gegenteil selbst ein Mittel problematischer Ordnungser-
haltung, frei nach der im Nachlass kolportierten tautologischen Sentenz (die
ĂŒbrigens eine altehrwĂŒrdige thematische bzw. motivische Tradition österrei-
chischer Literatur persifliert51) : âOrdnung kann gar nicht anders als in Ord-
nung sein [âŠ] : sie ist sozusagen schon ihrem Wesen nach in Ordnung. [âŠ]
Diese Ordnung war dem Franzisko-Josefinischen Zeitalter in Kakanien zur
Natur, ja fast schon zur Landschaft gewordenâ (MoE 1447, nach M I/8/8).
Entsprechendes deutet Musil im Einleitungskapitel seines Romans auf sub-
tile Weise an, indem er seinem anonymen Herrn âamerikanische[ ] Statisti-
kenâ ĂŒber Verkehrsopfer in den Mund legt, mit denen scheinbar ebenfalls eine
KommensurabilitÀt des kontingenten Geschehens erzeugt werden soll (MoE
11). Ihr phantastisch-makabres Ergebnis, wonach in Amerika â jĂ€hrlich durch
Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletztâ werden (MoE 11), hat
die Musil-Forschung aber mittlerweile als versteckten Hinweis auf die Zah-
len der toten und verwundeten österreichischen Soldaten des Kriegsjahres
1914/15 identifiziert â und damit auf den zuletzt vollstĂ€ndigen Zusammen-
bruch staatlich kontrollierter Ordnung.52
Wenn die zitierte âamerikanische Unfallstatistikâ also tatsĂ€chlich eine Statis-
tik österreichischer Opfer des Weltkriegs in sich birgt, dann wird im Eingangs-
kapitel des Mann ohne Eigenschaften bereits auf dessen geplanten Endpunkt
und gewundenen DurchgĂ€ngen und einem Gewirr von Stiegen und die neuen groĂen HĂ€user
zwischen ihnen, auf deren kahlen WĂ€nden in der DĂ€mmerung die riesigen bunten Inschriften
der Reklame leuchteten [âŠ]. Und alle Menschen hatten ihren Sinn ; alle Offiziere, die eleganten
Gardisten und die anderen, die das Haar tief in die niedrigen Stirn tragen und die Einfachen,
die nicht elegant sind ; und alle Soldaten und vor allem die groĂen ernsten tragischen Bosnier ;
und die Gesichter aller Völker der Reiches, die treuen, manchmal leise leidenden Gesichter der
Böhmen und Slowaken mit ihren starren, tiefen, sehnsĂŒchtigen Augen.â
51 Vgl. dazu Weiss : Thematisierung der âOrdnungâ in der österreichischen Literatur (zu Musil
bes. S. 38 f.). In Zweifel gezogen sei allerdings die Behauptung, Musils âProblematisierung der
austrianischen Weltordnungâ gehe wie jene Roths und Krausâ mit âgleichzeitiger Bewahrung der
Schöpfungsordnung auf einer anderen Ebeneâ einher (S. 39).
52 Vgl. Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 88. Gegen diese Deutung spricht allenfalls eine Notiz
aus dem Arbeitsheft 21, die sich wie ein Exzerpt geriert und die spĂ€ter in den Romantext ĂŒber-
nommenen Zahlen erstmals prĂ€sentiert : âNach einer offiziellen amerikanischen Statistik wurden
dort 1924 [!] durch Autos 190 000 Personen getötet u. 450 000 verletzt.â (Tb 1, 639 ; vgl. Tb
2, 452 f. u. MoE 1819) Da Musil seine Arbeitshefte bis auf wenige Ausnahmen aber nicht im
Sinne eines Tagebuchs, sondern als Reflexionsraum und Ideenreservoir fĂŒr kĂŒnftige (literarische)
Arbeiten fĂŒhrte, ist es relativ wahrscheinlich, dass dieser Eintrag kein â aufgrund der phantasti-
schen Zahlen ohnehin nicht verifizierbares (vgl. Tb 2, 453) â Exzerpt aus einer realen Statistik
darstellt, vielmehr schon im Hinblick auf eine spÀtere erzÀhlerische Verwertung vorgenommen
wurde.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208