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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld290
Modus (Konjunktiv II) und Wortwahl (âvor der Zeitâ) des zuletzt zitierten Sat-
zes zeigen, dass der ErzÀhler die noch heute weitverbreitete Vorstellung einer
geschichtsphilosophischen Notwendigkeit der Auflösung des kakanischen
Staatsgebildes keineswegs teilt, sondern in dessen institutionalisierter Wider-
sprĂŒchlichkeit geradezu ein Fanal gesellschaftlicher Moderne sieht, das sich
auch im Inneren der einzelnen Bewohner Kakaniens spiegelt :
Denn nicht nur die Abneigung gegen den MitbĂŒrger war dort bis zum Gemein-
schaftsgefĂŒhl gesteigert, sondern es nahm auch das MiĂtrauen gegen die eigene Per-
son und deren Schicksal den Charakter tiefer SelbstgewiĂheit an. Man handelte in
diesem Land â und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren
Folgen â immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Un-
kundige Beobachter haben das fĂŒr LiebenswĂŒrdigkeit oder gar fĂŒr SchwĂ€che des ih-
rer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch ; und es
ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner
Bewohner zu erklÀren. (MoE 34)
Wie Musils ErzÀhler hier zu Recht betont, verbietet es allein schon die imma-
nente Dynamik abstrakter sprachlicher âKollektivbegriffsbildungenâ, empirisch
wahrnehmbare âErscheinungen in einem Landâ aus angeblich intrinsischen
und zugleich kollektiven âEigenschaftenâ seiner Bewohner abzuleiten.68 Diese
Einsicht verkörpern die Kakanier auf exemplarische Weise, da ihnen, die in die
unterschiedlichsten âNationenâ zerfallen, ein einheitlicher und gemeinschafts-
bildender âCharakterâ gerade fehlt69, und ihre gemeinsame âSelbstgewiĂheitâ
besteht im Bewusstsein ebendieses Sachverhalts. Mehr noch : Im ebenfalls
fehlenden Vertrauen der Kakanier in ihre âMitbĂŒrgerâ sowie sogar in die je-
weils âeigene Personâ, das sich hier paradoxerweise zum âGemeinschaftsge-
fĂŒhlâ steigert, manifestiert sich insofern das romankonstitutive Prinzip der
68 Vgl. dazu folgende Argumentation aus dem Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) :
âSie [die Nation, N. C. W.] selbst hat keine andere Möglichkeit, in das reale Sein einzutreten,
als durch die Individuen, und keine anderen Wirkungen als die Wirkungen von Individuen ; eine
solche Existenz ist aber eben eine nur gedachte, ein Kollektivbegriff. [âŠ] Ist das der Sachverhalt,
so ist seine Umkehrung durchaus nicht berechtigt [âŠ]. Meist mag es ja nur eine Bequemlichkeit
der VerstÀndigung sein, wonach ein Mensch zuerst durch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe
gekennzeichnet wird [âŠ] : trotzdem ist es gerade in den harmlosen FĂ€llen ein gefĂ€hrliches Zu-
gestĂ€ndnis an eine lasterhafte Denkgewohnheit.â (GW 8, 1064)
69 Vgl. dazu Musils âAuszugâ aus der Einleitung âĂsterreich vor dem Kriegeâ zu Erich von Kahlers
Buch Das Geschlecht Habsburg (1919) : âDie charakteristische Vorstellung, die man von Ăsterreich
vor dem Kriege hatte, ist das Fehlen einer ausgesprochenen Vorstellung. Kein Geschmack, kein
Begriff, kein Schlagwort verband sich damit.â (Tb 1, 358 ; s. Tb 2, 220, Anm. 50)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208