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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld292
Soweit das nun ĂŒberhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien
geschehen, und darin war Kakanien, ohne daĂ die Welt es schon wuĂte, der fortge-
schrittenste Staat ; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte,
man war negativ frei darin, stĂ€ndig im GefĂŒhl der unzureichenden GrĂŒnde der eige-
nen Existenz und von der groĂen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht
unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umspĂŒlt, denen die
Menschheit entstieg. (MoE 35)
Was der ErzÀhler hier ironisch als kakanische Einsicht in die ontologische
Kontingenz der âeigenen Existenzâ entwickelt, entspricht gedanklich dem,
was Bourdieu als AufkĂŒndigung des der kollektiv geteilten illusio zugrunde lie-
genden sozialen âPaktsâ beschrieben hat. Demzufolge âbraucht man nur die im
Sinn fĂŒr das Spiel mitenthaltene Zustimmung zum Spiel zurĂŒckzunehmen, und
schon werden die Welt und das Handeln in ihr absurd, und es entstehen Fra-
gen ĂŒber den Sinn der Welt und des Daseins, die nie gestellt werden, solange
man im Spiel befangen, vom Spiel gebannt istâ72. Solche Fragen können die
Hervorbringungen âeines im Augenblick gefangenen Ăstheten oder mĂŒĂigen
Betrachtersâ73 sein, als kollektive Erfahrung aber auch das Ergebnis ganz be-
sonderer historischer Konstellationen, wie Bourdieu an anderer Stelle andeutet :
[A]usnahmsweise, namentlich in Krisenzeiten, kann bei manchen Akteuren eine be-
wuĂte und explizite Vorstellung von dem Spiel als Spiel aufkommen, die das Sich-
Investieren in das Spiel, die illusio, zerstört und sie als das erscheinen lĂ€Ăt, was sie (fĂŒr
einen externen, gleichgĂŒltigen Beobachter) objektiv stets ist, nĂ€mlich eine historische
Fiktion oder, mit Durkheim zu sprechen, âeine wohlbegrĂŒndete Illusionâ.74
Der kakanische Staat befindet sich nicht erst 1914 in einer solchen âKrisenzeitâ,
sondern strukturell bereits spÀtestens seit 1866, wobei freilich zu bedenken ist,
dass die Erfahrung der eigenen Kontingenz keineswegs von allen Bewohnern
Kakaniens gleichermaĂen geteilt und bewertet wird ; Musils ErzĂ€hler zufolge
existieren dort im Gegenteil ganz unterschiedliche Formen des Umgangs mit
dem beschriebenen Problem :
Der Mensch weiĂ gewöhnlich nicht, daĂ er glauben muĂ, mehr zu sein, um das sein
zu können, was er ist ; aber er muĂ es doch irgendwie ĂŒber und um sich spĂŒren, und
72 Bourdieu : Sozialer Sinn, S. 123.
73 Ebd.
74 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 361 f., Anm. 19.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208