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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld298
[V]erwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklĂ€rten, wenig fĂŒhlbaren, alle Spitzen
vorsichtig beschneidenden Weise von der besten BĂŒrokratie Europas, der man nur ei-
nen Fehler nachsagen konnte : sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht
an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privi-
legiert waren, als vorlautes Benehmen und AnmaĂung. Aber wer lieĂe sich gerne von
Unbefugten dreinreden ! Und in Kakanien wurde ĂŒberdies immer nur ein Genie fĂŒr
einen LĂŒmmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der LĂŒmmel
fĂŒr ein Genie. (MoE 33)
Den zuletzt zitierten Chiasmus mag man fĂŒr eine versteckte Anspielung auf
Hitler halten, der zur ErzÀhlzeit des Mann ohne Eigenschaften bereits allseits
sichtbar im Deutschen Reich sein Unwesen trieb, nachdem er sich 1914 â also
zur erzĂ€hlten Zeit â aus der ihm zu âeigenschaftslosenâ Haupt- und Residenz-
stadt Wien abgesetzt hatte, in der ihm kein beruflicher oder sonstiger Erfolg
beschieden war.84 Die fehlende Eignung des romanesken Handlungsraums
zum Spielort fĂŒr âLĂŒmmelâ, die sich als eigenschaftsstrotzende âGeniesâ aus-
geben, ist jedenfalls ein letztes (negatives) Argument fĂŒr die hier behauptete
strukturelle Homologie zwischen den Musilâschen Romanfiguren und ihrem
jeweiligen sozialen Feld, das im Falle Kakaniens eben eine durchaus normativ
verstandene ModernitÀt vertritt.85
AbschlieĂend sei als Fazit festgehalten : Der in Musils Roman entworfene
Chronotopos beansprucht paradigmatische Bedeutung, was der Autor schon
1920 in seinen Planungen des Arbeitshefts 8 bestĂ€tigt : â[D]ieses groteske
Ăsterreich ist nichts anderes als ein besonders deutlicher Fall der modernen
Welt.â (Tb 1, 354 ; vgl. MoE 1905) An seinem Beispiel will er deren Konflikt-
linien und Tendenzen exemplarisch veranschaulichen : âStadt und Land. BĂŒr-
gertum und Arbeiterschaft. Parlamentarismus und Hof-Aristo-BĂŒrokratie.
Der Kaufmann, der sich damals schon schadlos gehalten hat, wobei aber das
tĂŒchtig-korrekt noch ĂŒberwog. Die klerikalen Parteien und die geistigen Ul-
84 Allerdings gilt folgende Bemerkung des ErzĂ€hlers wohl auch und gerade fĂŒr Zeit und Ort des
romanesken Geschehens : âMan warf sich fĂŒr schwache MĂ€nner ins Zeug und lieĂ starke unbe-
achtet ; es kam vor, daĂ Dummköpfe eine FĂŒhrer- und groĂe Begabungen eine Sonderlingsrolle
spieltenâ (MoE 57).
85 Vgl. dazu Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 334 f.: âDoch
gerade die Eigenschaftslosigkeit, die Nichtverwirklichung der potentiell angelegten Eigen-
schaften, der Sinn fĂŒr Möglichkeiten und die negative Freiheit Ulrichs wie Kakaniens durch
das Nichtgeschehen sind etwas spezifisch KĂŒnstlerisches, Poetisches, schöpferisch Geniales.â
Insofern erscheint das positive Fazit des ErzĂ€hlers letztlich konsequent : âJa, es war, trotz vielem,
was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land fĂŒr Genies ; und wahrscheinlich ist es
daran auch zugrunde gegangen.â (MoE 35)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208