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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 299
tras. Die wahnsinnige BĂŒcher- und Zeitschriftenproduktion usw.â (Tb 1, 354)
Die kulturellen, sozialen und ökonomischen Spannungen der Vor- und Zwi-
schenkriegszeit sollen im âwechselseitigen Zusammenhang der in der Litera-
tur kĂŒnstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungenâ (Bachtin) kondensiert
werden, wobei hinsichtlich der âZeitâ als Spezifikum von Musils ErzĂ€hlkon-
struktion gilt : âAlles, was sich im Krieg und nach dem Krieg gezeigt hat, war
schon vorher da. [âŠ] Die Zeit ist nur zerfallen wie ein GeschwĂŒr. Alles muĂ
man submarin auch schon in dem Vorkriegsroman zeigen.â (Tb 1, 353 f.) Was
damit im Einzelnen gemeint ist, deutet die Notiz nur durch ein paar struktu-
relle Hinweise an, die aufgrund ihrer Konzision besonderes Gewicht bean-
spruchen dĂŒrfen : âEs war da : 1. Geschehenlassen / Absolute Grausamkeit : 2.
Nur das Mittel erleben. / Aus den gleichen GrĂŒnden Egoismus.â (Tb 1, 354)
Angesprochen wird damit sowohl die schleichende EntmÀchtigung des han-
delnden Individuums als auch der komplementÀre Bedeutungsgewinn trÀger
Massen als geschichtsmÀchtiger Instanz, was im Zusammenspiel auf parado-
xale Weise zu einem ungebremsten und deshalb gefĂ€hrlichen Wuchern rĂŒck-
sichtslos verfolgter Partikularinteressen fĂŒhrt.
âUnter dem Vorwand, das letzte Lebensjahr Ăsterreichs zu beschreibenâ,
reklamiert Musil fĂŒr seinen Roman in einer spĂ€ten Skizze eines Lebenslaufs
durchaus nicht unbescheiden, âdie Sinnfragen der Existenz des modernen
Menschen [âŠ] aufgeworfenâ, ja sogar âin einer ganz neuartigen [âŠ] Weise
beantwortetâ zu haben ; dazu sei es nötig gewesen, âseine Welt in universa-
ler Breiteâ zu entwerfen (GW 7, 950). In thematischer Hinsicht kann Musils
Chronotopos insofern geschichtstheoretisch ExemplarizitÀt beanspruchen, als
das âGesetz der Weltgeschichteâ seinem ErzĂ€hler zufolge ânichts anderesâ ist
âals der Staatsgrundsatz des âFortwurstelnsâ im alten Kakanienâ (MoE 361 ; vgl.
MoE 216 u. GW 8, 1374).86 Aus seiner diskursiven sowie performativen Falsifi-
zierung jeder Art von teleologischer Geschichtsphilosophie87, die in der durch-
aus erfolgreichen Regierungsweise Eduard Graf Taaffes ihr historisches Modell
86 1920 hatte Musil noch im Ton skeptischer Selbstbefragung gemutmaĂt : âWiederholen sich Ge-
schichtsepochen nicht ? Aber teilweise zb. wirtschaftlich tun sie es doch. Liegt doch eine gewisse
Entwicklungsrichtung vor ?â (Tb 1, 354) Wenn ihm dann die âKriegsstimmung mit garantiertem
Siegâ des Jahres 1933 in mancher Hinsicht als âeine kleine, erfolgreichere Repetition von 1914â
erschien, wie er sarkastisch in sein Arbeitsheft 30 eintrÀgt, ist das dennoch ein Argument gegen
eine âEntwicklungsrichtungâ im Sinn teleologischer Geschichtsphilosophie (Tb 1, 725).
87 Der stets als Romantelos vorgesehene Kriegsausbruch (vgl. etwa GW 7, 941) widerspricht die-
sem Befund nur scheinbar, konnte die 1914 explodierende destruktive Energie Musil zufolge
doch kaum konsequent im Sinne eines geschichtsphilosophischen Fortschritts gewendet wer-
den.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208