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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 301
sozialem Raumâ, denn : âDer soziale Raum ist nicht der physische Raum, rea-
lisiert sich aber tendenziell und auf mehr oder minder exakte und vollstÀndige
Weise innerhalb desselben.â93 Erst nach der analytischen Unterscheidung zwi-
schen den beiden wird es im Sinne der textsoziologischen Korrespondenzana-
lyse möglich âzu fragen, wie und inwieweit die Lokalisierung an einem Punkt
(nicht zu trennen von einem Standpunkt) des physischen Raums (und die PrÀ-
senz an diesem Punkt) die Vorstellung der Akteure von ihrer Stellung im sozi-
alen Raum, und damit : ihr praktisches Handeln, zu affizieren vermagâ94. Dass
Bourdieus soziologisches Modell des sozialen âKrĂ€ftefeldesâ â ein der Physik
(und nicht der Landwirtschaft !) entlehntes Denkbild â der konzeptionellen
Grundlage des Mann ohne Eigenschaften keineswegs heterogen ist, zeigt etwa
ein Eintrag in Musils Arbeitsheft 31 aus dem Jahr 1931, worin am Beispiel
einer Berliner StraĂenszene die auf einzelne bewegte Menschen wirkende
âFeldbindungâ als gleichsam âphysikalischer Vorgangâ beschrieben wird (Tb
1, 821).95 Schon in den Zwillingsschwester-EntwĂŒrfen der mittleren zwanziger
Jahre heiĂt es zum spĂ€teren Mann ohne Eigenschaften entsprechend : âSpĂŒrte,
daĂ von einem Menschen ein Netz von Kreuz- und Querlinien ausging, und
daĂ er [âŠ] einige kleine Magnete trug, von denen einer ihn in diesem Feld
von Kraftlinien zu bewegen begann.â (MoE 1712, nach VII/6/86) WĂ€hrend
also bisher der im Roman literarisch âneu erfundeneâ physische sowie histo-
risch-geografisch codierte Raum Kakaniens und seiner Haupt- und Residenz-
stadt Wien im Mittelpunkt des Interesses stand, soll im Folgenden der soziale
Raum des Romans als gesellschaftliches KrÀftefeld untersucht werden. Ein
sozialer Raum definiert sich nach Bourdieu wie folgt :
Wie der physische Raum durch die wechselseitige ĂuĂerlichkeit der Teile bestimmt
ist, so der soziale Raum durch die wechselseitige AusschlieĂung (oder Distinktion)
der ihn konstituierenden Positionen, das heiĂt als eine Struktur des Nebeneinanders
von sozialen Positionen. Die sozialen Akteure wie auch die von ihnen angeeigneten
und damit zu Eigenschaften, Merkmalen erhobenen GegenstÀnde sind an einem Ort
93 Bourdieu : Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 28.
94 Ebd.
95 Vgl. Essen : Das âdurchstricheneâ Wien, S. 161. Genaueres zum wissenschaftstheoretischen Hin-
tergrund dieses Eintrags, der Gestaltpsychologie Kurt Lewins, findet sich in Hoffmann : âDer
Dichter am Apparatâ, S. 274â284, bes. S. 279 f.; Hoffmann bezieht Lewins Erkenntnisse, die eine
Vorform der spÀteren psychologischen Feldtheorie darstellen, im Unterschied zur vorliegenden
Untersuchung allerdings nicht auf das erzÀhlerisch konstituierte soziale KrÀftefeld von Musils
Roman, sondern auf einzelne Passagen und einschlĂ€gige â teils deutlich ironische â Thematisie-
rungen des ErzÀhltextes (vgl. etwa MoE 374).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208