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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld304
Die Einsicht in die Bedeutung narrativer Raumgestaltung fĂŒr faktuale und
fiktionale Texte ist selbstredend kein Verdienst der vorliegenden Arbeit.104
SpÀtestens seitdem der russische Strukturalist Jurij M. Lotman den literari-
schen Text als einen âin gewisser Weise abgegrenzten Raumâ beschrieben
hat, âder in seiner Endlichkeit ein unendliches Objekt â die im VerhĂ€ltnis
zum Kunstwerk Ă€uĂere Welt â abbildetâ, ist das âProblem des kĂŒnstleri-
schen Raumsâ auch in das Bewusstsein der Literaturwissenschaft getreten.105
Nach Lotman fungiert âdie Struktur des Raumes eines Textesâ als âMo-
dell der Struktur des Raumes der ganzen Welt, und die interne Syntagma-
tik der Elemente innerhalb des Textesâ gerĂ€t âzur Sprache der rĂ€umlichen
Modellierungâ.106 Die unterschiedlichsten âModelle der Welt, mit deren Hilfe
der Mensch auf verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte den Sinn
des ihn umgebenden Lebens deutetâ, rekurrieren Lotman zufolge sĂ€mtlich
auf âdie Sprache rĂ€umlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel
zur Deutung der Wirklichkeitâ.107 Dementsprechend könne âdas rĂ€umli-
che Modell der Welt in [âŠ] Texten zum organisierenden Elementâ werden,
âum das herum sich auch die nichtrĂ€umlichen Charakteristiken ordnenâ.108
Zum âwichtigsten topologischen Merkmal des Raumesâ erklĂ€rt Lotman âdie
Grenze. Sie teilt den Raum in zwei disjunkte TeilrÀume. Ihre wichtigste Eigen-
schaft ist ihre UnĂŒberschreitbarkeit. Die Art, wie ein Text durch eine solche
Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichsten Charakteristika.â109
Der âOrt der Handlung(en)â hat in einem ErzĂ€hltext also viel weiter ge-
hende strukturelle Funktionen als bloĂ die einer âBeschreibung der Land-
schaft oder des dekorativen Hintergrunds. Das gesamte rÀumliche Kontinuum
des Textes, in dem die Welt des Objekts abgebildet ist, fĂŒgt sich zu einem ge-
wissen Gesamt-Topos zusammen. Dieser Topos ist immer mit einer bestimm-
ten GegenstÀndlichkeit ausgestattet, da Raum dem Menschen immer in Form
irgendeiner FĂŒllung gegeben ist.â110 Im Fall des Mann ohne Eigenschaften be-
steht der âGesamt-Toposâ in den oben bereits diskutierten gesellschaftlichen
und kulturellen Gegebenheiten Kakaniens vor dem Ersten Weltkrieg, und als
104 Vgl. dazu jetzt die grundlegende Untersuchung von Schubert : Raumkonstitution durch Spra-
che ; daneben die von Jörg DĂŒnne und Stephan GĂŒnzel herausgegebene instruktive Textsamm-
lung Raumtheorie.
105 Lotman : Die Struktur literarischer Texte, S. 311â340, Zit. S. 311.
106 Ebd., S. 312.
107 Ebd., S. 313.
108 Ebd., S. 316.
109 Ebd., S. 327.
110 Ebd., S. 329.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208