Seite - 309 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 309 -
Text der Seite - 309 -
âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 309
von rÀumlicher KontinuitÀt, die sich zwischen zwei entgegengesetzten Polen
entfaltet. Zwischen ihnen, die vorlÀufig als Gegensatz zwischen affirmativer
und subversiver Welthaltung bestimmt werden können, bildet sich ein KrÀfte-
feld, das nicht mehr unabĂ€nderliche soziale und symbolische âGrenzenâ, son-
dern kontinuierliche ĂbergĂ€nge bzw. bewegliche Einschnitte aufweist. Auch
das scheinbar romankonstitutive Inzestverbot muss nicht mehr ârealâ ĂŒber-
schritten werden, um die fundamentale BinaritÀt des romanesken Raums zu
konstituieren, sondern eröffnet ein Kontinuum möglicher Verhaltensweisen.
Bezeichnend ist im Zusammenhang des zitierten GesprÀchs zwischen Ul-
rich und Bonadea nÀmlich der Umstand, dass die Geliebte nicht an einem
von Ulrich affirmierten InzestverhÀltnis so empört Anstoà nimmt, sondern im
Gegenteil an seiner exklusiven Entscheidung fĂŒr eine âreineâ, âuneigennĂŒtzigeâ
Liebe zwischen den Geschwistern. Hier offenbart sich eine entscheidende
Differenz zwischen den frĂŒhen Entwurfsfassungen zum Zweiten Buch aus den
mittleren zwanziger Jahren â insbesondere dem vielzitierten Kapitelentwurf
âDie Reise ins Paradiesâ (MoE 1651â1675) â und dem von Musil autorisierten
Romantext. In diesem wird anstelle des ursprĂŒnglich geplanten tatsĂ€chlichen
körperlichen Inzestvollzugs eine âuneigennĂŒtzigeâ, vergeistigte Form der ge-
schwisterlichen Vereinigung gestaltet, und die Empörung Bonadeas entzĂŒndet
sich â wie bereits zitiert â eben an Ulrichs AnkĂŒndigung, âlange Zeit keine
Frau anders zu lieben, als wĂ€re sie [s]eine Schwesterâ. Die romankonstitutive
Tabugrenze verschiebt sich solcherart vom körperlichen Bereich in den des
Geistes bzw. der ethischen Haltung.
FĂŒr die ErgĂ€nzung bzw. Weiterentwicklung von Lotmans formalistischem
Modell des âkĂŒnstlerischen Raumsâ durch die sozialwissenschaftliche Raum-
konzeption Bourdieus lassen sich auch genuin innerÀsthetische Argumente
anfĂŒhren : Wenn Musil im autorisierten Romantext anstelle des zunĂ€chst
geplanten scheiternden körperlichen Inzestvollzugs eine âreineâ, vergeistigte
Form der geschwisterlichen Liebe gestaltet, rekurriert er zum einen gedank-
lich auf den seit der Weimarer Klassik125, spÀtestens aber seit Flaubert etab-
lierten Zusammenhang âzwischen den diversen Formen der Liebe und den
diversen Formen der Liebe zur Kunstâ, zum anderen aber auch implizit auf die
âUmkehrung, die die Welt der reinen Kunst und die Welt der GeschĂ€fte in Ge-
gensatz bringtâ.126 Gerade die distinktive GegenĂŒberstellung unterschiedlicher
Liebesformen dient traditionell als Medium kĂŒnstlerischer Selbstreflexion127,
125 Vgl. Wolf : Goethe als Gesetzgeber, S. 43 f.
126 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 49.
127 Vgl. etwa Klinkert : Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208