Seite - 314 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 314 -
Text der Seite - 314 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld314
andererseits als assimilierter Jude am weiteren Aufstieg gehindert wird und
auch politisch ein AuĂenseiter bleibt.146 Die unterschiedlichen Voraussetzun-
gen, sich im skizzierten Feld der Macht behaupten zu können, bestehen in den
mitgebrachten âEigenschaftenâ der einzelnen Romanfiguren, d. h. in ihren ver-
schiedenen habituellen Dispositionen und ihrer jeweiligen Kapitalausstattung.
Als ein Feld potentieller KrÀfte, die auf jeden eindringenden Körper wirken, bildet
das Macht-Feld auch ein Kampffeld, eine StÀtte der Auseinandersetzungen, und ist
in diesem Sinne vergleichbar einem Spiel : Die Dispositionen, [âŠ] das Ensemble von
inkorporierten Eigenschaften, einschlieĂlich Eleganz, ungezwungenes Auftreten, ja
selbst Schönheit, sowie das eigentliche Kapital in seiner dreifachen AusprÀgung als
ökonomisches, soziales und kulturelles, stellen gleichsam TrĂŒmpfe dar, die sowohl
ĂŒber die Art des Spiels als auch ĂŒber den Erfolg dabei entscheiden, das heiĂt ĂŒber
den gesamten ProzeĂ des gesellschaftlichen Alterns [âŠ].147
Der Roman â gewissermaĂen eine âGeschichte der strukturell notwendigen
ZufĂ€lle, die soziales Altern bestimmenâ148 â ist auf diese Weise als eine âArt
soziologischen Experimentsâ149 zu lesen : Demnach werden die einzelnen Ro-
manfiguren,
Partikeln in einem [physikalischen, N. C. W.] Kraftfeld gleich, in diesen Raum ge-
worfen ; ihre jeweilige Laufbahn bzw. ihr Werdegang wird dabei bestimmt durch
das VerhÀltnis zwischen den KrÀften des Feldes und ihrer je eigenen TrÀgheit. Die
TrÀgheit ist doppelt verankert : in ihren aufgrund ihrer Herkunft und ihres Werde-
146 Deutlich wird an diesem Beispiel die genetische Ausrichtung von Bourdieus Konzept des
Macht-Feldes, das je nach Kapitalstruktur bzw. nach Dominanz einer bestimmten Kapitalsorte
unterschiedliche Formen annimmt und unterschiedliche Konstellationen aufweist, die als tran-
sitorische jeweils nichtteleologisch zu verstehen sind. Vormoderne Staaten konnten mit ihren
juridischen Instanzen dem ökonomischen und politischen Machtstreben bestimmter sozialer
Gruppen (insbesondere ethnischer oder religiöser Minderheiten) enge Grenzen setzen, in-
dem sie deren symbolisches Kapital auf diskriminatorische Weise limitierten. Diese etatistische
Macht ist seit dem 18. Jahrhundert generell im Schwinden begriffen, wurde im âDritten Reichâ
aber noch einmal in vordem ungekannten Dimensionen ausgeĂŒbt. Wie sich etwa am Beispiel
Leo Fischels zeigen lÀsst (vgl. dazu Kap. II.2.1), existieren freilich selbst in Gesellschaften mit
weitgehender rechtlicher Gleichstellung unsichtbare soziale Schranken, die umso unĂŒberwind-
barer sein können.
147 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 30.
148 Ebd., S. 47. Es handelt sich bei den scheinbaren ZufĂ€llen des Romanplots um ânotwendige Ko-
inzidenzen, anlĂ€Ălich derer sich die im âMilieuâ verwurzelte und in den Personen inkorporierte
Notwendigkeit enthĂŒlltâ.
149 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 29.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208