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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld318
Insgesamt verlaufen die Auseinandersetzungen im Feld der Macht, die als
Spiel nach gewissen festgesetzten Regeln beschrieben werden können, also
keineswegs bloĂ wie ein vom verfĂŒglichen Erbe determinierter Mechanismus :
âDie in das Spiel Eintretenden können sich in zweifacher Hinsicht unterschei-
den : erstens unter dem Aspekt des zur VerfĂŒgung stehenden Erbes, das heiĂt
der TrĂŒmpfe [Habitus und Kapitalausstattung, N. C. W.] ; zweitens unter dem
der Einstellung des Erben zu diesem seinem Erbe, das heiĂt unter dem As-
pekt des âErfolgswillensâ.â170 Hier ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten fĂŒr
die erzĂ€hlerische Gestaltung : âDie spezifische ModalitĂ€t der Praktiken, in der
sich die Einstellung zum Einsatz manifestiert, die âErnsthaftigkeitâ, die âĂber-
zeugungâ, die âBegeisterungâ (oder umgekehrt die âLeichtfertigkeitâ, die âAn-
maĂungâ und âUngeniertheitâ), bildet das sicherste Zeugnis der Anerkennung
der begehrten Positionen, folglich der Unterwerfung unter die Ordnung, der
man sich zu integrieren beabsichtigtâ171 â oder eben nicht. In engem Zusam-
menhang mit dem manifesten Willen, ein ĂŒberkommenes Erbe anzutreten,
steht etwa die generelle Bereitschaft, âein âordentlicherâ Mensch zu werdenâ,
sich mit den âEigenschaften zu versehenâ, die nicht nur in der bĂŒrgerlichen
Epoche einem Mann âdie Hilfsmittel und Insignien gesellschaftlicher Exis-
tenz verleihenâ konnten : ââBerufâ und eine Ehefrau samt Rente als Mitgift.â172
Die Musilâschen Romanfiguren verhalten sich in dieser Angelegenheit höchst
unterschiedlich und jeweils habituell charakteristisch : WĂ€hrend etwa Walter
eine bequeme Beamtenstelle annimmt und heiratet, verweigert sich Ulrich â
Ă€hnlich wie Arnheim, aber aus anderen GrĂŒnden â solchen Insignien bĂŒrgerli-
cher Existenz. Es mangelt ihm generell an dem, âwas der BĂŒrger âErnstâ nennt,
jene FĂ€higkeit, zu sein was man istâ173, und damit auch an sozial legitimierten
âEigenschaftenâ bzw. an den âTugenden derer, die sich mit dem identifizieren,
was sie sind, die tun, was zu tun ist, und ganz dem hingegeben sind, was sie
tunâ174. Zumindest vorlĂ€ufig bestĂ€tigt sich somit Bourdieus Diagnose : âDer
Eintritt ins Leben als Eintritt in die von der gesamten Gruppe verbĂŒrgten [sic]
Realillusion ist nicht selbstverstĂ€ndlich.â175 Eine entscheidende Rolle spielt
dabei das VerhÀltnis zu den Eltern, das um 1900 zumindest auf symbolischer
Ebene vor allem durch die dominante Stellung des Vaters geprÀgt war und
das Musil selbst als generationelle Problematik der âVĂ€terlichkeitâ (Tb 1, 569)
170 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 31.
171 Ebd., S. 37 f.
172 Ebd., S. 33.
173 Ebd.
174 Ebd.
175 Ebd., S. 35.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208